Portugals Kaspertheater
In kaum einem deutschen Kinderzimmer steht kein Kaspertheater. Der Kasper ist allerorts beliebt und bekannt. Das portugiesische Pendant ist Dom Roberto, der mindestens genauso weit zurückgeht, wie der Kasper. Doch während Kaspertheater in Deutschland und Österreich weit verbreitet sind, halten in Portugal nur einige wenige an der Tradition fest. Jorge Soares ist einer davon.
Wir treffen uns auf einem kleinen Platz in Lagoa, auf dem Jorge Soares vor zwei Jahren ein Dom Roberto-Stück aufführte. „Das war damals im Rahmen eines vom Rathaus organisierten, kulturellen Stadtausflugs“, erinnert er sich. Solche Vorführungen seien selten. Davon leben kann er keinesfalls. Dennoch liegt es Jorge sehr am Herzen, die Dom Roberto-Tradition am Leben zu halten. Er stellt sein in die Jahre gekommenen Kartonkoffer auf die Bank. Als er ihn öffnet, lächle ich unwillkürlich. Eine ganze imaginäre Welt mit langer Tradition passt in diesen kleinen Koffer, denke ich mir.
Behutsam nimmt Jorge eine Figur nach der anderen heraus: Dom Roberto, die Hauptfigur, die auch diesem einzigartigen Theater den Namen verleiht, der Drachen, der Polizist, das Gespenst, der Teufel und der Tod. Aber auch der Stierkämpfer, der Stier, der Esel und der Außerirdische. Schlagstock, Bratpfanne und Rasierklinge gehören auch in Portugal zur Grundausstattung, wobei der Schlagstock hierzulande aus Schilfrohr ist. Denn das Kasper- und das Dom Roberto-Theater, die beide 2021 im jeweils nationalen Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurden, haben Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede.
„Ihren Ursprung haben sie, wie auch die vergleichbaren Kasperfiguren Mr. Punch (England), Guignol (Frankreich), Jan Klaassen (Niederlanden) oder Mester Jakel (Dänemark), im italienischen Pulcinella der Commedia dell’Arte“, beginnt Jorge zu erklären. Allesamt seien diese Figuren lustig, naiv, schlagfertig, wortgewaltig und auch etwas hintersinnig. „Prügel- und Totschlagszenen sind fester Bestandteil des Spielplans, vor allem das Verprügeln mächtiger Gegenspieler, welche meistens die Autorität darstellen und die die Hauptfigur stets erfolgreich bekämpft. Viele Stücke sprachen wohl die unterdrückten Aggressionen der Zuschauer an und boten ihnen ein Ventil für ihre Verdrossenheit mit der Obrigkeit.
Fast wie eine Katharsis“, so der Handpuppenspieler. Unter den traditionellen Stücken finden sich viele, die zum europäischen Repertoire gehören, einige wurden an die portugiesische Realität angepasst, andere neu erfunden, wie „Der Marquês de Pombal und die Jesuiten“, durch das die Puppenspieler den Hass des Volkes auf die unbarmherzige portugiesische Inquisition ausdrückten. Während der Kasper eine auffällige Nase hat und stets eine Zipfelmütze trägt, ist Mr. Punch durch sein markantes Kinn erkennbar. Dom Roberto verfügt hingegen über keine besonderen Merkmale.
„Er hat meistens ein rosa Gesicht mit breitem Lächeln und großen runden Augen“, erzählt Jorge weiter. „Es ist sein Charakter, der ihn von den anderen Figuren im Stück unterscheidet.“
Einfachheit sei das Stichwort bei dem Dom Roberto-Theater, sowohl was die Figuren als auch was die „Bühne“ betrifft. Die barraca der portugiesischen Puppenspieler ist oben offen und besteht aus vier Seiten, die ein Quadrat mit einer Seitenlänge von etwa einem Meter bilden, die maximale Größe, die es dem Puppenspieler ermöglicht, zwei Puppen an allen möglichen Punkten der „Bühne“ zu platzieren. Sie besteht aus einer einfachen Konstruktion und ist traditionell mit chita bedeckt, einem günstigen Stoff, der mit kräftigen Farben und Blumenmotiven bedruckt ist. Eine Kulisse gibt es nicht. „Das Dekor wird von der Umgebung gebildet: Der blaue Himmel, die Bäume in einem Park oder die Fassade eines Hauses. Manchmal tauchen lose Kulissenelemente auf, die keine dekorative Funktion haben, sondern sich aus den Geschichten selbst ergeben: ein Schloss, eine Truhe, ein Kleiderschrank oder die Wellen des Meeres“, erzählt Jorge weiter.
Diese Schlichtheit habe eine einfache Erklärung. „Die Puppenspieler führten oft ein kärgliches Leben als Außenseiter der Gesellschaft. Oftmals wurden sie sogar verachtet und verjagt“, so Jorge. Dennoch war es für ihn Liebe auf den ersten Blick, als er mit 18 Jahren im Lissabonner Jardim da Estrela eine Dom Roberto-Vorführung von João Paulo Cardoso sah, einem der bekanntesten Handpuppenspieler Portugals und Gründer des Teatro de Marionetas do Porto. „Ich war kein Kind mehr und wusste genau, dass es nur Handpuppen sind. Aber sie schienen lebendig. Und wie! Sie sind fröhlich, frech und laut! Die Prügelei, die Tänze, der Rhythmus der Schläge mit den Stöcken und der aufeinanderprallenden Köpfe, der ganze Wahnsinn auf der Bühne! Man taucht, auch als Erwachsener, einfach in diese magische Welt ein“, erinnert sich Jorge und seine Augen strahlen dabei.
Hinzu kämen die unverwechselbaren krächzenden Stimmen der Figuren. Diese werden mit Hilfe von zwei Metallstreifen, die um ein Baumwollband gebunden sind, erzeugt, das der Puppenspieler im Mund hat. Auch bei Mr. Punch-Stücken wird das auf Portugiesisch palheta und im Englischen swazzle genannte Gerät eingesetzt. Die palheta führt nicht nur zur charakteristischen Stimme der Puppen, sondern auch zu einem besonderen Wortschatz. Da manche Laute sich mit dem Gerät im Mund nicht aussprechen lassen, dafür aber das R besonders ausgeprägt ist, benutzen die Puppenspieler vor allem Worte mit diesem Konsonanten.
„Das Geschehen auf der Bühne hat mich so fasziniert, dass ich sofort wusste, dass ich mich dieser Tradition widmen würde und machte mich auf die Suche nach Ausbildungen und Workshops“, berichtet Jorge. „Viele gab es nicht, aber ich ergriff jede Möglichkeit und fand meinen Meister in Manuel Dias aus Évora.“ Damals, vor knapp über 25 Jahren, gab es nur vier Puppenspieler in Portugal, heute sind es etwa 14. In der Algarve sind Jorge Soares und João Costa von Mãozorra – Teatro de Marionetas in Barão de S. Miguel die einzigen Vertreter dieser darstellenden Kunst.
Ursprünglich war es ein derbes Jahrmarktsvergnügen für Erwachsene und Jugendliche, mit deutlich satirischen Zügen. Doch das Spielprinzip entwickelte sich im Laufe der Jahre mit den gesellschaftlichen Veränderungen. In Deutschland führte die Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jh. dazu, dass die Kasperfigur geläutert, hilfsbereit und schlau wurde, Lebensfreude ausstrahlte und sich mit Witzen zu behaupten wusste. Nach 1933 wurde die Figur der nationalsozialistischen Kulturpolitik untergeordnet. Mitte des 20. Jh. entstanden der Verkehrskasper, der Gesundheitskasper und später der Umweltkasper. Dabei verlor der Kasper immer mehr seinen ursprünglichen gesellschaftskritischen Charakter. Heute sind Kasperspiele unterschiedlichen Charakters im Repertoire von mehr als 350 Puppentheatern in ganz Deutschland vertreten.
„In Portugal wurde das Dom Roberto-Theater nicht für Propagandazwecke des Estado Novo eingesetzt. Verboten wurde es auch nicht, obwohl die kritische Stimme des Puppenspielers gefürchtet wurde. Oft wurden sie bei Ankunft in einer Stadt zuerst zur Polizeiwache geführt, wo die Figur des Polizisten in einer Schublade verschwand“, weiß Jorge gut gelaunt zu berichten. Auch Priester verboten oft die Vorführungen, weil sie sie als unmoralisch betrachteten. Ab den 1960er Jahren ist Dom Roberto praktisch in Vergessenheit geraten und die meisten Puppenspieler gaben die Kunst auf. Meister António Dias aber nicht.
Er war derjenige, der in den 1980er Jahren all sein Wissen an João Paulo Cardoso weitergab, der wiederum eine „neue Generation“ für das Puppenspiel gewinnen konnte, wie Jorge Soares. Derzeit gibt es in Portugal etwa zehn Puppentheater, die hauptsächlich Marionettentheater anbieten, aber auch Schattenspiele und Dom Roberto-Stücke. Letztere erlebten auch in Portugal eine Entwicklung. In einem von Jorges Stücken geht es beispielsweise um die Verschmutzung der Ozeane durch Plastik. „Aber auf die Prügelei und das übliche Durcheinander kann ich nicht verzichten. Dom Roberto muss frech, witzig und laut sein, sonst ist es kein Dom Roberto-Stück, sondern ein normales Puppentheater. Wir müssen der Figur treu bleiben“, betont Jorge. Dann legt er die Figuren alle ordentlich in seinen Koffer zurück und diese magische Welt, die so viele Emotionen bei Groß und Klein weckt, verschwindet wieder vor meinen Augen.
Text und Fotos: Anabela Gaspar in ESA 07/2022
Jorge Soares
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