Tiefsinnige Kritzelkunst
Kennen Sie diese Kritzeleien, die beim Telefonieren oder während den Unterrichtsstunden und Meetings entstehen? Marta Vieira hebt die sogenannte Nebenbei-Zeichnung auf ein ganz anderes Niveau. Ihre Werke sind bis Ende Juni im ESA-Büro ausgestellt.
Vor allem beim Telefonieren greifen viele Menschen gerne zum Stift. Was sie kritzeln, wissen sie oft selbst nicht genau. Auf Kunstpsychologie und unbewusste Ausdrucksformen spezialisierte Psychologen können daraus eine ganze Menge ersehen. Auch Marta Vieira zeichnet auf intuitive Art. Ihre Kritzelbilder bestehen im Wesentlichen aus Strichen und Punkten, die ein Bild ergeben. Der Detailreichtum ist absolut erstaunlich, und bei näherer Betrachtung entdeckt man Verstecktes, das auf den ersten Blick entgeht. „Ich habe diese Kritzeleien schon immer gemacht, aber sie nie weiter beachtet. Am Ende landeten sie im Mülleimer“, erinnert sich Marta. Bis zu dem Tag, an dem eine Zeichnung auf dem Kaffeetisch liegen blieb, eine Freundin sie sah und begeistert war. „Das hat bei mir etwas ausgelöst, und von da an habe ich die Zeichnungen anderen zwar nicht gezeigt, aber zumindest aufbewahrt.“
Als Marta vor zwei Jahren krank und isoliert zu Hause bleiben musste, widmete sie sich stundenlang dem „Kritzeln“. Es bot ihr nicht nur einen Zeitvertreib, sondern auch eine Möglichkeit, ihre Gefühle auszudrücken. Ihre Freundin, selbst Malerin, entdeckte Martas Zeichnungen und sah in ihnen mehr als nur Kritzeleien. Sie ermutigte Marta, auf Instagram eine Seite zu erstellen und die Zeichnungen zu veröffentlichen. „So begann ich meine Kritzeleien mit anderen Menschen zu teilen und entdeckte dabei, dass sie mehr als nur Kritzeleien sind“, erinnert sie sich lächelnd.
Marta arbeitet auf A4-Formaten und lässt die schwarzen Stifte mit unterschiedlich dicken Spitzen, „die wie eine Verlängerung meiner Hand sind“, über weißes 350 Gramm-Papier gleiten. Sie verspürt den Drang, die Leerräume so weit wie möglich zu füllen und spielt gerne mit „Illusionen“, „sodass der Betrachter einige Details erst aus der Nähe entdeckt“, erklärt sie. „Meine Freundin sagt mir immer, ich soll das Bild atmen lassen, mehr Leerraum lassen. Das führe ich nun langsam ein, obwohl mein Unterbewusstsein mir nach wie vor sagt, dass Weiß des Blattes überwiegend abzudecken“, erklärt sie ihren kreativen Prozess. In letzter Zeit setzt sie ihren sonst schwarz-weißen Bildern auch farbige Akzente mit Acrylstiften. Es gibt kein gemeinsames Thema oder eine zu vermittelnde Botschaft. Einige Zeichnungen sind etwas düster, andere fröhlicher und einige scheinen Hymnen an die Natur zu sein.
Laut Psychologen stellen Kritzelbilder in der Regel Gefühle dar. Das Kritzeln löse innere Spannungen und erlaube, Dinge zu verbalisieren, über die man nicht sprechen kann oder will. Viele von Martas Zeichnungen beinhalten Dinge, die sie gerne macht wie Surfen, Stand-up-Paddle oder Klettern – Aktivitäten, die sie, aus gesundheitlichen Gründen, derzeit nicht ausüben kann. Andere haben eine oder mehrere zentrale Figuren, und die Fläche rundum ist mit Strichen, Punkten und Spiralen gefüllt, die verschiedene Muster bilden. „Ich mache keine Skizze und habe, wenn ich anfange, selten eine Vorstellung von dem was ich zeichnen werde. Es passiert alles sehr intuitiv“, verrät Marta. Psychologen bestätigen: Das Kritzeln geschieht nebenbei, ohne Vorsatz. Der Zeichner weiß oft selbst nicht, was am Ende dabei herauskommt. Die gestaltenden Kräfte seien im Grunde dieselben, die auch in unseren Träumen am Werk sind. Eine Ausnahme stellen die Bilder dar, die Marta mittlerweile im Auftrag zeichnet. Wie zum Beispiel die Zeichnung mit dem Frosch und den Blumen, die sie für eine Frau fertigt, die ihren Arbeiten folgt. Die Kritzeleien rund um diese Figuren entstehen aber wie immer intuitiv.
Eine ihrer letzten Zeichnungen zeigt fünf menschliche Figuren mit seltsamen Gesichtsausdrücken. Sie entstand, als Marta „die Mimik der Besucher einer Kunstmesse beobachtete und ihre Bemerkungen hörte“. Ohne den Zeichner und die Situation zu kennen, in der die Bilder entstehen, könne man Kritzelbilder nur schwer deuten, so Psychologen. Einige Interpretationen aus der Traumforschung könne man aber anwenden: Wer Spiralen zeichne, sei introvertiert und denke viel nach. Dreiecke, Quadrate und Rechtecke ließen darauf schließen, dass der Zeichner ein rationaler Mensch ist, der vielleicht mehr auf Gefühle achten sollte. Zacken stehen für Aggressionen, Gesichter für den Wunsch nach Geselligkeit.
Neben dem Zeichnen und Schreiben widmet sich Marta auch der Fotografie und zeichnet auf Leinwand. In allen Bereichen braucht sie einen Anstoß, um ihre Werke der Öffentlichkeit zu zeigen. „Ich bin sehr introvertiert, der soziale Kontakt fällt mir schwer, deshalb habe ich immer nur für mich gezeichnet und nie daran gedacht, meine Bilder anderen zu zeigen. Mein Schwachpunkt ist, dass ich meine Arbeiten erst schätzen lerne, nachdem sie von Außenstehenden anerkannt werden. Dafür müssen die Menschen sie allerdings erst sehen…“, sagt sie mit einem Lächeln.
Im September wird Marta einen großen Schritt wagen: Sie wird ihre Werke auf der Art Expo Algarve in der Portimão Arena ausstellen. Bis dahin können Interessierte eine Auswahl ihrer Arbeiten im ESA-Büro sehen (Di – Fr 10 – 17 h).
Text und Fotos: Anabela Gaspar in ESA 04/2023
Marta Vieira
FB/Instagram: indigenousart85