Portugals einzige Reißbrettstadt
Als Ausflugsziel unter Spaniern sehr beliebt, ist die Grenzstadt am Guadiana-Fluss anderen Touristen bislang weitgehend unbekannt. Dabei hat Vila Real de Santo António einiges zu bieten und ist von einer abwechslungsreichen Natur umgeben
Vila Real de Santo António blickt auf eine kuriose und einzigartige Geschichte zurück: Die Stadt an der Mündung des Grenzflusses ist nicht das Ergebnis einer jahrhundertelangen Geschichte oder einer spontanen Entwicklung. Ihre Errichtung wurde am 30. Dezember 1773 durch ein königliches Dekret von D. José I. festgelegt. Dahinter standen eine politische und eine wirtschaftliche Entscheidung des Ministerpräsidenten Sebastião José de Carvalho e Melo, dem Marquês de Pombal: Die Besteuerung der Fischerei und die Algarve vor spanischen Territorialgelüste abzusichern.
In Monte Gordo hatten sich, angezogen von reichen Sardinenfängen, Fischer aus Katalonien niedergelassen, die prosperierten. Den Marquês de Pombal erreichten Berichte, dass der Fischfang sehr lukrativ sei, die Einnahmen sich jedoch der Steuerbehörde und somit dem Königshaus entzogen, da der Fisch nach Spanien geschmuggelt wurde. Der Marquis beschloss dem ein Ende zu setzen und damit gleichzeitig dem benachbarten Königreich gegenüber die Macht der portugiesischen Krone zu bekräftigen.
Um Spanien die Stirn zu bieten, sollte eine Stadt am Ufer des Guadianas errichtet werden, in der der Fischfang entladen, von der Zollbehörde kontrolliert und in den sogenannten Sociedades de Pescarias für den Export verarbeitet werden sollte. Im Januar 1774 traf der Plan der zukünftigen Stadt in der Algarve ein, der von der Casa do Risco das Obras Públicas entworfen und vom Marquês de Pombal genehmigt worden war. Die Casa do Risco wurde 1755 gegründet, um den Aufbau Lissabons nach dem Erdbeben zu bewältigen. Der Plan für Vila Real wies die gleiche Schachbrettstruktur auf, die für die Baixa von Lissabon entwickelt worden war. Da es sich um eine von Grund auf neu errichtete Stadt handelte, bot sich die perfekte Gelegenheit, Raumordnung und politische Ideologie zu vereinen. Der Plan sah eine rechteckige, auf den Guadiana ausgerichtete Stadt vor: Am Ufer, Spanien zugewandt, das Zollhaus, flankiert von den Fischergesellschaften; in der Mitte ein Hauptplatz an dem das Rathaus, das Gefängnis, die Polizeiwache und die Kirche lagen und von dem im rechten Winkel Straßen abgingen, in denen die einstöckigen Wohnungen der Fischer untergebracht werden sollten.
Nur zwei Jahre verstrichen zwischen der Grundsteinlegung am 2. März 1774 und der feierlichen Einweihung am 13. Mai 1776. Nur eines fehlte: die Einwohner. Die Fischer aus Monte Gordo weigerten sich, nach Vila Real überzusiedeln. Selbst nachdem der Marquis ihre Strohhütten niederbrennen ließ. Stattdessen zogen sie auf die Isla Cristina in Spanien. Somit blieb Vila Real für fast 100 Jahre eine Geisterstadt, die lediglich Beamte bewohnten. Es war der Fischfang, der letztendlich die Planstadt rettete. Die damals unerschöpflich erscheinenden Schwärme von Sardinen und Thunfischen in den Küstengewässern der Algarve verwandelten Vila Real in ein Hauptzentrum der Konservenindustrie, das nicht nur portugiesische Unternehmer, sondern auch Spanier, Italiener und Griechen anzog. Die dann einsetzende Prosperität machte aus Vila Real einen der wohlhabendsten Fischereihäfen Portugals.
Heute ist Vila Real eine der am stärksten verschuldeten Gemeinden Portugals. Glanz und Glorie der Konservenindustrie sind längst vergangen und obwohl der Marquês de Pombal Spanien die Stirn bieten wollte, hält sich Vila Real dank der spanischen Besucher über Wasser. Die Stadt hat sich in ein Einkaufszentrum unter freiem Himmel entwickelt und es sind vor allem Spanier, die hier Bettwäsche und Badetücher kaufen und in den vielen Restaurants ein und aus gehen.
Wie in der Vergangenheit, spielt sich auch heute alles rund um den nach dem Marquês de Pombal benannten Hauptplatz ab. Vor etwa 20 Jahren war nur die Rua Dr. Teófilo Braga, an deren Westende unser Ausflug startet, den Fußgängern vorbehalten. Mittlerweile wurde auch die parallel verlaufende Rua 5 de Outubro für Autos gesperrt sowie die Straßen, die beide verbinden. In allen reihen sich Geschäfte, Restaurants und Cafés aneinander, die mit lockenden Aufstellern Passanten zu einem Slalomlauf zwingen. Es herrscht ein Wirrwarr von Werbeplakaten, Schildern, Sonnenschirmen, Tischen und Stühlen, das wenig oder nichts mit der klaren Perspektive und Einheitlichkeit, mit der der Marquis die Stadt errichten ließ, zu tun hat. Die strenge Symmetrie und der schlichte Stil des originalen Stadtplans finden ihr Zentrum auf dem Praça Marquês de Pombal und sind auch heute – trotz Verkaufsständer und Caféterrassen – noch zu erkennen. In der Mitte thront ein dem König D. José I. gewidmeter Obelisk, an dem sich die Streifen im Kopfsteinpflaster treffen.
Der Avenida da República folgen wir einige Meter flussaufwärts, vorbei am 1926 eröffneten Hotel Guadiana, das von dem Schweizer Architekten Ernest Korrodi im Jugendstil entworfen wurde und das erste Hotel in der Region war, und weiter bis zum sogenannten Torreão Norte, das Gebäude, das im Originalplan den nördlichsten Punkt der Stadt bildete. Direkt daneben steht das schönste Herrenhaus der Stadt, das leider seit über 20 Jahren dem Verfall überlassen ist. Es wurde von Raul Lino, einem berühmten portugiesischen Architekten, für Sebastian Ramirez, Eigentümer der gleichnamigen Konservenfabrik, entworfen und ist Zeuge des ehemaligen Reichtums der Stadt. Direkt gegenüber am Fluss befindet sich das alte Zollamt – allerdings nicht das ursprüngliche! – und der ehemalige Grenzposten. Bevor im August 1991 die Brücke über den Guadiana fertiggestellt wurde, strömten hier täglich Hunderte Grenzgänger ein, die mit der Fähre übersetzten. Heute kommen die meisten mit dem Auto und das Zollamt ist eine Polizeiwache.
Der Zugang zur Fähre, die nach wie vor die Verbindung nach Spanien ermöglicht, liegt rechts vom Gebäude an einem kleinen Kai. Dort blicken wir auf den Yachthafen, der sich seit etwa 20 Jahren entlang der gesamten ursprünglichen „Stadtfront“ erstreckt. Genau in der Mitte dieser „Front“ liegt das ursprüngliche Zollamt, das sich leicht von den anderen Gebäuden unterscheidet. Es wurde zusammen mit dem Hotel von der Stadt saniert – zum Teil vom EU-Fonds Jessica für nachhaltige Investitionen in Stadtgebieten finanziert – und an die Hotelgruppe Grand House für 30 Jahre konzessioniert. Kurz darauf erreichen wir den Torreão Sul, der das städtische Archiv beherbergt.
Richtung Flussmündung reihte sich früher eine Konservenfabrik an die andere. Ende der 1990er Jahre waren sie dem Verfall überlassen, doch seit der Yachthafen gebaut wurde, erwacht dieser Stadtteil zu einem neuen Leben mit modernen Wohnkomplexen. Während in Portimão das industrielle Erbe gesichert und die Konservenindustrie durch die Errichtung eines Museums geehrt wird, blieb in Vila Real kein einziger Fabrikschornstein, der früher den Geruch von gekochtem Fisch verströmte, stehen. Selbst die Gartenanlage in diesem „gehobenen“ Stadtteil wird nicht gepflegt. Überall liegt Müll und wächst Unkraut. Dabei suchen sowohl Einheimische als auch Besucher täglich die Flusspromenade für Spaziergänge auf.
Am Kreisverkehr biegen wir rechts ab und erreichen kurz darauf den Pinienwald, der sich über drei Kilometer entlang der Sandküste bis Monte Gordo erstreckt, und den Leuchtturm. Vom Stil her passt dieser in die Planstadt des Marquis, doch das Gebäude stammt aus dem Jahr 1923. Ein Besuch ist derzeit wegen Sanierungsarbeiten leider nicht möglich. Vor dem Leuchtturm biegen wir rechts in die Av. Ministro Duarte Pacheco, laufen entlang der Tennisplätze und des Sportkomplexes, der eines der besten Trainingslager in Europa bildet und der Stadt einen internationalen Ruf unter Leichtathleten brachte, an der „Escola dos Meninos“ vorbei, die bis heute so genannt wird, weil dort bis in die 1970er Jahre nur Jungen aufgenommen wurden, und erreichen kurz darauf die „Escola das Meninas“, die heutige Hotelfachschule für Tourismus, wo unser knapp 2,5 Kilometer langer Stadtrundgang begann.
Unser Fazit: Vila Real de Santo António weist Merkmale auf, die es zu einer der schönsten oder sogar zur schönsten Stadt der Region werden lassen könnten. Damit sind nicht nur die einzigartige Raumordnung und Architektur gemeint, sondern auch die geografische Lage und die umliegenden Naturräume. Im Osten schmiegt sich die Stadt an den Guadiana-Fluss, im Süden an den Atlantik, ihre feinsandigen Strände und der Pinienwald erstrecken sich über mehrere Kilometer, und im Norden grenzt Vila Real an ein Naturreservat, das das Zuhause von Hunderten Flamingos und anderen Wasservögeln ist. Doch im Stadtkern muss die visuelle Verschmutzung beseitigt und die Grünflächen gepflegt werden.
Text und Fotos: Anabela Gaspar in ESA 05/2022