Annährung an den Kolonialismus
Die neu konzipierte Ausstellung über die portugiesische Entdeckerexpansion in Sagres ist seit Kurzem eröffnet und lädt Besucher in das meistbesuchte Monument der Algarve zu einem kontroversen Gedankenspaziergang einmal um die Welt ein
Selbstverständlich darf die Geschichte von São Vicente, der als Märtyrer in Valencia zu Tode gefoltert, als Leichnam nach Sagres gebracht und dort bestattet worden ist, bis König D. Henrique die sterblichen Überreste exhumieren und in einem Reliquienschrein an Bord einer königlichen Karavelle nach Lissabon überführen ließ, auch in dem neu eröffneten Ausstellungszentrum in der Fortaleza de Sagres nicht fehlen. Die Raben, die die Überlieferung von Valencia via Sagres nach Lissabon legendär begleiten, fehlen ebenso wenig. Der Leuchtturm und das Kap São Vicente in Sagres wurden einst auf den Namen des Märtyrers getauft und das Stadtwappen von Lissabon schmücken zwei Raben auf einem Segelschiff.
„Alles, was vorstellbar ist, ist möglich“, lautet eine portugiesische Weisheit, denn zwischen Himmel und Meer passiert viel mehr als wir glauben zu sehen.
Etwas Ähnliches mag sich der in Porto geborene Thronprinz Infante D. Henrique auch gedacht haben, nachdem er arabische Gelehrtenschriften über Feldforschung und damals gültige Weltkarten studiert hat, auch solche über einen winzigen Ort am Ende des Königreiches Portugals, genannt Terra Santa, heute Sagres.
Von Kindesbein an stets das Meer im Blick, das sein Mutterland von Nordwesten bis Südosten umarmt, hat das Unbekannte des Prinzen Neugier gekitzelt. Mit jugendlichem Eifer las er alles, was er über fremde Welten und Wasser finden konnte, bis all die verheißenden Erzählungen über ferne Länder und Sitten seine bisherige Vorstellung des Weltenbildes gesprengt haben. Zu den beschriebenen Ländern musste es einen Seeweg geben, war er überzeugt – und er wollte ihn erforschen – vor allem den Seeweg nach Indien. Eine Vision war geboren.
Ein in der Tat visionäres und gewagtes Vorhaben in einer Epoche, in der das Ptolemäische Weltenbild weiterhin vorherrschte, das bislang im Abendland von Gelehrten der katholischen Kirche aufrecht gehalten wurde, denn die Naturwissenschaft galt nach wie vor als „Teufelswerk“. Angst vor dem Verschwinden hinter dem Horizont hatte Seefahrer bis dato davor abgeschreckt, die feine Linie zwischen Himmel und Meer zu erforschen. Doch Prinz Heinrich ahnte, hinter dem Horizont fing die Welt erst an.
Die erste Expedition startete in Porto und endete in Ceuta in der heutigen spanischen Enklave in Marokko. Anschließend zog Prinz Heinrich um, von Porto in die Algarve, und initiierte eine Station zur Erforschung des Kosmos und seiner Elemente auf der imposanten Peninsula, dem Heiligen Vorgebirge (promontório) im damals frisch ernannten Prinzendorf Vila do Infante. Dort werteten Gelehrte diverser Studienrichtungen die geheimen Logbücher der Karavellen-Kapitäne, roteiros genannt, aus, in denen sämtliche relevante Informationen über jede Expedition penibel aufgezeichnet und in geheimer Mission aus dem Hafen in Lagos über Land nach Sagres gebracht wurden. Dank der präzise notierten Beobachtungen und Vermessungen seitens der Navigatoren entstanden nach und nach völlig neue See- und Landkarten, die die Kartographie revolutionierten und nach denen sich die Schifffahrt und später die Luftfahrt orientierten.
Der Startschuss der portugiesischen Expansion über den Atlantik Richtung Süd-Süd-Ost auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien, war gleichzeitig der Beginn einer weltumspannenden geografischen Neuvermessung und ein globaler Aufbruch des Abendlandes in neue Welten. Infante D. Henrique, in der Geschichtsschreibung bekannt als Heinrich der Seefahrer, legte den Grundstein für das moderne und bis heute gültige kosmische Verständnis auf See. Einer der ersten Globi wurde in Portugal von einem deutschen Geografen aus Nürnberg namens Martim Behaim gefertigt, der in Sagres viele Jahre im Dienst des Königreiches Portugals tätig war.
Ein Modell seines „Behaimschen Erdapfels“ prangt im Relief über dem inneren Torbogen der Festung von Sagres, zusammen mit dem königlichen Wappen in Sandstein gemeißelt.
Der Expansion der portugiesischen Entdecker lagen drei Motive zugrunde: Das kleine Königreich strebte nach Geltung auf dem historischen Parkett und nahm den einzig möglichen Weg hierfür wahr, den über das Meer. Portugals Krone forschte nach neuen Einnahmequellen und Handelsbeziehungen und fand sie auf insgesamt vier Kontinenten, was dem geografisch betrachtet kleinem Land großen Reichtum bescherte. Der katholische Glaube sollte mit dem Ziel Naturvölker und Ungläubige zu evangelisieren in die Welt getragen werden. Eine Art moderner Kreuzzug, mag man sich fragen.
Die Projektleitung des neuen Museums in Sagres hat sich mit dieser Frage intensiv sorgfältig und für den Besucher sichtbar und fühlbar gewidmet. Neben den glorreichen Entdeckerfahrten kommt die Stimme der Erinnerungskultur zu Wort. Anschaulich ausführlich geht das neue Museum auf die damals vom Klerus proklamierte und angeblich von Gott auferlegte Pflicht der Evangelisierung ein und verdeutlicht die bis heute nachhallenden Konsequenzen der Umerziehung der indigenen Völker zu Christen. Ebenso kritisch setzt sich die Ausstellung mit den Folgen der jahrhundertelang andauernden Ausbeutung lokaler Ressourcen auseinander. Mit einem neutralisierend differenzierten Blick auf alle Seefahrernationen, die sich ebenso aus den von ihnen besetzten Gebieten bedient haben. Museumspädagogisch explizit aufgefächert, touchiert die Ausstellung somit die in Europa aktuell überall angeregte Debatte über einstige Kolonialherrschaft.
Auch einem anderen jahrhundertelangen Tabu-Thema nähert sich das Museum offensichtlich bewusst: Menschenhandel. Historisch ist die Tatsache bekannt, dass die portugiesische Expansion zum Teil aus dem Erlös von Menschenhandel finanziert worden ist. Allerding nicht nur die der Portugiesen. Diverse Exponate lassen den „Handelsweg“ Rota dos Escravos aus Afrika via Europa nach Amerika verbildlicht auferstehen. Eine Geschichtsstunde, die weh tut, jedoch für die Komplexität der Expansionsgeschichte der Menschheit wichtig ist, weil alle Entdeckernationen im Handel mit Menschen involviert gewesen sind.
Jede Seemeile Erforschung der Weltmeere hat somit einerseits Fortschritt, Wohlstand, globalen Kommerz, kulturelle Annäherung und Anerkennung beschert, aber andererseits bis heute fühlbare Schatten hinsichtlich der brutalen Verdrängung lokaler Kulturidentität sowie die jahrhundertelange Versklavung von Menschen hinterlassen. Ein düsteres Kapitel Erinnerungskultur, das nach Aufklärung drängt.
Der Zeitpunkt für solch eine offene Auseinandersetzung mit Kolonialherrschaft und ihren Folgen in allen Aspekten, ist längst überfällig. In Portugal sowie in allen anderen abendländischen Staaten, die den Aufbruch in die Neue Welt gewagt haben. Vielleicht ist die Zeit sogar reif für eine ehrliche, wenngleich schmerzhafte Annäherung zwischen einstigen Kolonialisten und Kolonialisierten.
Die Projektleitung des Centro Expositivo e Instalação Museográfica no Promontório de Sagres hat die Auseinandersetzung mit allen Aspekten des Kolonialismus, historisch ausgewogen konzipiert, gewagt. Damit beschert das Museum reichlich Anreiz zur Debattenkultur, gepaart mit Erlebniswert für alle Altersgruppen und Wahrnehmungsebenen. Es lädt ein zu einem kontroversen Gedankenspaziergang mit allen Sinnen, vom Dufterlebnis importierter Gewürze hin zum Hörerlebnis auf hoher See bis zum 3D-Filmvergnügen an Bord einer portugiesischen Karavelle. Vor allem steht die Ausstellung aber endlich dort, wo sie hingehört: in Sagres.
Text und Fotos: Catrin Ponciano in ESA 02/2023; Luftbild: Viagens e Caminhos/Shutterstock
Fortaleza de Sagres
Täglich 9.30 – 17.30 Uhr
ab Mai bis 20 Uhr
Eintritt: € 3 inklusive Museumsbesuch
Audioguides und QR-Codes in diversen Sprachen verfügbar