Volkstümliches Wissen mit Design gepaart
Seit mittlerweile 18 Jahren arbeiten Kathi Stertzig und Álbio Nascimento an der Schnittstelle zum traditionellen Handwerk in Portugal. Unter anderem entwickeln die beiden Produktdesigner zusammen mit Handwerkern tägliche Gebrauchsgegenstände. Jüngste Ergebnisse ihrer Kooperation können unter dem Titel „Práticas Situadas“ bis Mitte Juni im Palácio Gama Lobos in Loulé gesehen werden
Beim Thema traditionelles Handwerk spricht Kathi Stertzig immer wieder von Faszination. Dabei ist es nicht das Endprodukt, das sie fasziniert, sondern die menschliche Dimension und die Nachhaltigkeit der Herstellung. „Das Handwerk, bei dem hauptsächlich die Hände und natürliche Materialien, die vor Ort vorhanden sind, zum Einsatz kommen, folgt den biologischen Zyklen der Natur und trägt zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen menschlicher Tätigkeit und Landschaft bei. Es handelt sich um eine Produktionsweise, die traditionell aus einem soziologischen und kulturellen Kontext hervortritt und im Einklang mit den örtlichen geografischen Gegebenheiten, mit der natürlichen Umgebung und dem Klima steht“, begründet Kathi ihre Begeisterung. Dass das traditionelle Handwerk vom Aussterben bedroht ist, stimmt sie keineswegs zu. „Den Handwerkern geht es gut und sie haben viel zu tun. Was fehlt ist Nachwuchs. Zudem handelt es sich bei ihren Produkten nicht um Museumsstücke, sondern um zeitgenössische Gegenstände. Sie existieren ja noch, werden produziert, verkauft und benutzt! Wir wollen diese vornehmlich traditionellen und alten Objekte, entstauben und zeigen, dass wir sie jeden Tag benutzen sollten und können!“, so Kathi.
Die gebürtige Hannoveranerin studierte in ihrer Heimatstadt und in Eindhoven Produktdesign und Innenarchitektur. Álbio Nascimento kommt aus Faro, studierte Produktdesign in Lissabon und Potsdam. Kennengelernt hat sich das Paar während eines Studiums in Mailand. „Wir wollten nicht mit der Industrie zusammenarbeiten und Nachhaltigkeit war uns sehr wichtig. Daher überlegten wir, wie man als Produktdesigner etwas schaffen könnte und sich selbst und seinen Werten dabei treu bleibt“, erinnert sich Kathi. So kam es, dass sie ab 2005 oft nach Portugal reisten, um Handwerker zu besuchen, um mit ihnen zusammenzuarbeiten. Schnell stellten sie fest, dass der direkte Austausch und die Zusammenarbeit mit ihnen, das war, wonach sie gesucht hatten. Drei Jahre später organisierten sie in Olhão die Ausstellung „Cultura Intensiva“, bei der sie Prototypen zeigten, die sie mit Handwerkern entwickelt hatten. Wichtiger Bestandteil der Ausstellung war das Recycling-Konzept. „Handwerker dieser Region werfen nichts weg, sie flicken und reparieren so oft wie nötig“, erklärt Kathi. Zur Ausstellung veröffentlichten sie ein Buch mit Fotos, typischen Rezepten und einem Bericht des Direktors des Trachtenmuseums in São Brás de Alportel über die Wiederverwertungskultur der Handwerker. Durch „Cultura Intensiva“ wurde die regionale Entwicklungskommission CCDR Algarve auf sie aufmerksam, was sie zu ihrem nächsten Projekt führte und in der Algarve ein Stein ins Rollen brachte.
Die CCDR Algarve beauftragte sie mit der Ausarbeitung eines Projektes zum Thema Zukunft des Handwerks. Kathi unterrichtete damals in Weimar, Álbio in Potsdam, aber sie erkannten die Chance, mit diesem Projekt das umzusetzen, was ihnen schon lange im Kopf herumschwirrte und sie kamen für ein Jahr nach Portugal. Zwischen 2010 und 2011 entwickelten sie das Projecto TASA, das bis heute existiert und traditionelle Handwerker mit Designern verbindet. „Ich bin der Meinung, dass TASA funktioniert hat, weil wir nicht versucht haben für einen internationalen Markt zu arbeiten, sondern Gegenstände hergestellt haben, die hier in der Region Absatz fanden“, so Kathi. Erfolgreich war dieses Projekt auch darin, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für das volkstümliche Handwerk zu wecken. Seitdem wurden verschiedene ähnliche Projekte ins Leben gerufen, darunter Loulé Criativo und Loulé Design Lab vom Rathaus von Loulé. Ob Kathi und Álbio dazu beigetragen haben? „Ich denke schon, denn wir haben damals erstmals gezeigt, dass man strukturell mit den Handwerkern neue Produkte entwickeln kann, sie ästhetisch neu beleuchten kann. Das, denke ich, hat damals schon etwas in Gang gesetzt“, so Kathi.
Es folgten mehrere Projekte, bei denen das Paar immer als Berater beteiligt war. Sie erhielten beispielsweise Aufträge vom Verein des Fernwanderweges Rota Vicentina, um kulturelle Eigenarten mit Nachhaltigkeit und Tourismus zu verbinden; vom Lissabonner Rathaus zur Entwicklung einer Strategie, um traditionelle Geschäfte vor der Immobilienspekulation und dem Ausverkauf zu schützen (Lojas com História) und danach über das Kulturministerium, zur Ausarbeitung der landesweiten Strategie zur Förderung des Handwerks (Estratégia Nacional Saber Fazer Português). Für A Vida Portuguesa, eines der ersten Unternehmen, die sich auf traditionelle portugiesische Produkte spezialisierten, haben Kathi und Álbio das Designdepartment aufgebaut.
All diese Projekte führten dazu, dass Kathi und Álbio ihr eigenes Designstudio etwas vernachlässigten. „Wir haben uns gefragt, was bedeutet das, was wir für andere entwickelt haben, für uns als Designer, die seit 15 Jahren in diesem Bereich arbeiten?“, so Kathi. So kam es im Jahr 2020 zu Origem Comum (z. Dt.: gemeinsame Ursprünge), eine gemeinnützige Plattform zur Erforschung, Entwicklung, Vermarktung und Verkauf von handgefertigten traditionellen Waren. Durch die Erforschung eines zeitgenössischen Raums für volkstümliches Wissen, stellt die Plattform handwerkliche Praktiken und Artefakte in den Mittelpunkt globaler Diskussionen über nachhaltige Produktion, fairen Handel und verantwortungsvollen Konsum. Dabei geht es, wie Kathi unterstreicht, nicht um Kunsthandwerk, sondern um volkstümliches Handwerk. Der Unterschied liege darin, dass es sich nicht um Deko-, sondern um alltägliche Nutzobjekte handelt. „Es gibt mittlerweile viele Plattformen, auf denen Kunsthandwerker zusammen auftreten. Meistens sind es Urban Makers, deren Produkte eine sehr internationale Ästhetik und kaum eine Verbindung zu den traditionellen Mustern und Techniken haben, was eigentlich der Reichtum dieses Landes ist“, so Kathi.
Im ersten Jahr haben Kathi und Álbio mit mehreren Handwerkern und anderen Partnern zusammengearbeitet, um alte Techniken, Formen und Modelle wieder aufzugreifen. Das Ergebnis ist eine Sammlung einfacher funktioneller Alltagsgegenstände. Über den Online-Shop von Origem Comum kann man u. a. gamelas aus Barcelos erwerben, große Schüsseln, die von Hand aus einem massiven Kiefernstamm geschnitzt werden und traditionell dazu verwendet werden, den Brotteig vor dem Backen ruhen zu lassen. Die bilha Carapinhal aus der Region Miranda do Corvo, die zum Transport und aufbewahren von Wasser dient; die cadeira das Furnas aus São Miguel, die auch heute noch in vielen Häusern auf den Azoren zu sehen ist, oder papagaios, kleine Ablagen auf denen die Öllampen oder das Glas neben den Wasserkrügen abgestellt wurden. Praktisch jede Region Portugals ist in der Produktpalette vertreten.
Die jetzige Ausstellung in Loulé zeigt Entwürfe aus natürlichen Materialien, die mit Handwerkern der Algarve und der Werkstätte des städtischen Projektes Loulé Criativo entwickelt wurden sowie andere Produkte, deren Wurzeln in der Region liegen. Erstmals hat das Produktdesignerpaar mit einem Kupferschmied zusammengearbeitet. Das Ergebnis sind Tabletts und Kerzenleuchter aus Kork und Kupfer. Gezeigt werden auch Kurzfilme von Jorge Murteira, in denen nicht über die Handwerker gesprochen wird, sondern sie selbst zu Wort kommen.
Gleichzeitig haben Kathi und Álbio die Künstlerin Evey Kwong (futurprimitiv.org) eingeladen, die sich seit einigen Jahren dem Thema Handwerk widmet und die Welt bereist, um traditionelle Techniken zu recherchieren und zu lernen. Sie wird zwischen Mai und Juni drei Wochen in Loulé sein und zum Thema empreita, Flechten aus Palmblättern, recherchieren und mit dem Produktdesignerduo sowie den Handwerkerinnen der Casa da Empreita von Loulé Criativo zusammenarbeiten. Kathi ist gespannt, was dabei herauskommen wird.
Text und Fotos: Anabela Gaspar in ESA 05/2023
Origem Comum
Kathi Stertzig und Álbio Nascimento
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