Das ,,Gelbe Buch“ hat in der Pressegeschichte den Beigeschmack der Dekadenz. Verfall und Niedergang guter Sitten in Handel und Dienstleistung sammelt ein livro amarelo im Internet und liefert gleichzeitig ein Bild des Konsumenten
Speakers‘ Corner im Londoner Hyde Park ist seit 1872 offiziell ein Ort, an dem jeder jederzeit einen Vortrag zu jedem beliebigen Anliegen halten darf. Die Queen war immer Tabu, Religion ein heikles Thema. Karl Marx referierte über ,,Lohn, Preis und Profit“, auch 140 Jahre später ein populäres Thema, doch die Mecker-Ecken des 21. Jahrhunderts haben ihren Platz im Internet. Ombudsmann und Wirtschaftsministerium bieten OnlineBeschwerdedienste; das Ministerium macht den Fortgang der Klage abrufbar.
Portugals Verbraucher bevorzugen die tagesaktuelle Info-Börse www.livroamarelo.net, ein ,,freier, allen Verbrauchern zugänglicher Raum, ganz gleich ob Firmen oder Privatpersonen“. Die Konsumenten müssen sich nicht identifizieren: Es sei ,,relevant für die Gesellschaft, Mitbürgern ehrliche Hinweise zu geben“, ohne Furcht vor Repressalien. Moderatoren betreuen das Portal und löschen sittenwidrige Einträge und jede Form von Reklame. Lösungsvorschläge und Kommentare sind erwünscht. Eine 95-seitige Download-Broschüre (Guia do Consumidor) informiert über die klage-intensivsten Bereiche und den Umgang mit ihnen: Justiz, öffentliche Verwaltung, Reisebüros, Supermärkte, Banken, Makler, Telekommunikation, Bau- und Hotelgewerbe, Verkehrsbetriebe. Der User findet Aufklärung über seine Rechte und Vordrucke, um sie einzufordern und nimmt kein Blatt vor den Mund: ,,Rádio Popular in Viseu“ habe den Druck von 10 x 15-Digitalfotos zum Preis von neun Cent pro Bild beworben, dann aber einen Euro ,,für digitale Bildbearbeitung berechnet“, die der Kunde nicht erbeten hatte und über die er nicht informiert wurde. Die Banco Santander Totta erschwere es, Familienangehörigen eine Kontovollmacht zu erteilen. Die Stadt Lagoa begann zum Tag des Kindes einen Musikabend für die Kleinen um 23 Uhr, wohl kaum die geeignete Uhrzeit, schreibt eine Mutter. Ein Fußballfan meldet Hygienemängel in den Toiletten des Algarvestadions. Das sei eben so, wenn ,,ein Stadion am A… der Welt gebaut wird“, antwortet ein anderer. Ein User aus Faro schreibt, er habe mehrfach bei Stadt und Umweltamt Verschmutzungen aus der Landwirtschaft gemeldet, aber keine Institution habe je geantwortet. Das Centro de Saúde von Loulé behandele Patienten ,,mürrisch und bummelig“. Ein Mieter einer Etage über einem McDonald’s-Restaurants beschwert sich über Lärm nach 22 Uhr. Der Bürowarenhändler Staples habe in einer Filiale mit Laptop-Computern einer bestimmten Marke geworben, es gab aber nur zwei Stück für Kunden, die vorbestellt hatten. Der Laden lehnte weitere Bestellungen ab. Solche Einträge treiben die Kundschaft zur Konkurrenz, daher lesen auch Firmen die Seite aufmerksam. In den beiden letzten Fällen kam es prompt zu einer Reaktion: Ein Mitarbeiter des Bulettenbräters entschuldigte sich für das Rauschen der Belüftungsanlage, Staples nahm neue Laptops ins Sortiment. Die Kundschaft ist beharrlich: Dreimal, so eine livro amarelo-Autorin, habe sie bei Pão de Açucar in Lagoa verdorbene Lebensmittel erhalten, so verpackt, dass das Angefaulte nicht erkennbar war. Die Erstattung des Geldes plus kostenlosem Ersatz befriedigen die Kundin nicht: Das sei ja ,,ganz nett, um uns zum Schweigen zu bringen, ändert aber nicht, dass in diesem Land einfach zu viel faul ist“. Der Filialleiter einer Kaufhauskette glaubt, solche Webseiten ,,wachsen zu einer gegengewichtigen Marktmacht“ und setzt auf Kooperation. In der Einbahnstraße Anbieter Verbraucher wird Gegenverkehr proklamiert. Auch Verbraucherzentralen begrüßen, wenn Konsumenten selbst aktiv werden. Die Verbände könnten sich dann ,,auf Prozesse mit großer wirtschaftlicher Tragweite“ konzentrieren, denn ,,Immobilienfinanzierung, Gesundheits- und Altersvorsorge übersteigen die Möglichkeiten der Meckerecke“, so ein Verbraucherschützer. Mit Kritik umzugehen, ist aber nicht jedem gegeben. Seit Anfang 2006 muss in allen Büros, Läden und Ämtern ein Beschwerdebuch ausliegen. Anfängliches Murren überraschte nicht. Nun kam ein Antrag auf Abschaffung dieser Pflicht in Büros vom Anwaltsverband Ordem dos Advogados.
ESA-InSite
Auf der Internetseite www. petitiononline.com fordern 1.600 Unterschriftensammler aus Portugal Pop-Konzerte, die Lehre alter Sprachen und Aktionen zu Plänen für Kernkraftwerke. Manche erreichen nur ein knappes Dutzend Unterschriften. Gefragter sind Beschwerdeseiten Das Buch für alle Reklamationen ist www.livroamarelo.net. Wer unsicher über den richtigen Ansprechpartner ist, findet Info bei www.srrh-recursoshuma nos.pt/guia.htm. Auf http://vagosonline.org/ reclamacoes.htm stehen Links zu Institutionen. Der Verbraucherschutz-Verband sammelt unter http:// acop.planetaclix.pt den Unmut der Bürger. Das Wirtschaftsministerium nimmt auf www.consumidor.pt Einwände entgegen. Der Ombudsmann hört unter www.provedor-jus.pt/queixa. htm Klagen.
Henrietta Bilawer
ESA 12/08