In den Länderspezifischen Empfehlungen für Portugal des diesjährigen Europäischen Semesters, die Vorgaben im finanz-, wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Bereich enthalten, hat die EU-Kommission eine Warnung ausgesprochen, die Zweifel an einem der größten Flaggschiffe der sozialistischen Regierung aufkommen lässt. Laut Premierminister António Costa, soll der nationale Mindestlohn im Jahr 2026 mindestens € 900 betragen. Doch Brüssel warnt vor unerwünschten Nebenwirkungen: Dies könnte die Investitionen in Bildung demotivieren.
Zwar wurde Portugals Staatshaushalt für 2022 von der EU-Kommission befürwortet, aber Brüssel macht darauf aufmerksam, dass neben der Staatsverschuldung und dem Defizit auch andere Probleme gelöst werden müssen. Der Mindestlohn sei einer davon. Die EU- Kommission räumt ein, dass „die jüngsten Erhöhungen die Armut trotz Erwerbstätigkeit verringern können“, aber zu einem anderen Problem führen könnten: „Es kann Investitionen in Bildung und höhere Qualifikationen demotivieren, da die Prämie für diejenigen, die mehr Qualifikationen erworben haben, zunehmend an den Mindestlohn gekoppelt ist.“ Kurzgefasst: Studieren lohnt sich demnächst nicht mehr.
Premierminister Costa trat Ende 2015 ins Amt. Im Januar 2016 hob er den Mindestlohn von € 505 auf € 530 an; seit 1. Januar 2022 liegt der Mindestlohn bei € 705. Das bedeutet einen Anstieg um 33 % seit Costas Amtsantritt und eine jährliche, durchschnittliche Erhöhung um 5,5 %. Bei den letzten Wahlen versprach Premierminister Costa, dass der Mindestlohn weiterhin steigen und 2026 bei € 900 liegen soll. Die Kommission bezweifelt, dass dies die beste Lösung ist. Eine Anhebung des Mindestlohns „kann den Einzelnen davon abhalten, in seine Bildung zu investieren, da die Unterschiede zwischen den Gehältern von gering- und hochqualifizierten Arbeitnehmern reduziert werden“.
Portugal sei ein relativ armes Land und es gebe deutliche Anzeichen dafür, dass sich die Situation durch die Covid-Pandemie verschlechtert hat. „Die Armutskluft hat sich 2020 vergrößert. Nationale Daten deuten auf eine Verschlechterung der sozialen Indikatoren für Armut und Ungleichheit im Jahr 2021 hin, die auf die Auswirkungen der Pandemie zurückzuführen sind“, so Brüssel. Darüber hinaus warnt die Kommission, dass die Sozialhilfe nach wie vor unzureichend ist, wodurch Situationen der Ausgrenzung verschärft oder verlängert werden. So ist beispielsweise „die Angemessenheit des Mindesteinkommens gering und entspricht 37,5 % der Armutsgrenze“. In der EU sind es 58,9 %. Und „die Abdeckung der Sozialleistungen ist schwach“, warnt Brüssel. „Die Lücken in der Absicherung der Arbeitnehmer bestehen fort“ und „die Armut trotz Erwerbstätigkeit bleibt ebenfalls relativ hoch“. Der Anteil der armutsgefährdeten Erwerbstätigen lag 2020 bei 9,5 %, wobei Teilzeitbeschäftigte stärker betroffen waren. „Das anhaltend niedrige Tempo bei der Verringerung von Armut und Ungleichheit durch Sozialleistungen deutet auf Sozialschutzausgaben unter dem EU-Durchschnitt und auf ein ineffizientes Sozialschutzsystems hin“. Nicht zuletzt „hinkt der Bestand an Sozialwohnungen, obwohl er sich entwickelt, weiterhin der Nachfrage hinterher“, so Brüssel.