Die Stadt als Leinwand
Von Schmiererei zu urbaner Kunst. Graffiti werden längst nicht mehr als Vandalismus gesehen. Viele Städte entdecken diese Kunst als Mehrwert für den öffentlichen Raum. Auch Lagoa zeigt seit kurzem kunstvoll bemalte Mauern
In seinem Katalogbeitrag zur UrbanArt Biennale 2015 führt der Autor Frank Krämer den Begriff Urban Art folgendermaßen ein: „Sie sprayen Graffiti an Fassaden, benutzen Schablonen auf Mauern und bekleben Wandflächen großflächig mit Papiercollagen. Ihre Kunst ist rebellisch, verstörend, gefällig und populär.“ Seit etwa der letzten Jahrtausendwende formiert sich weltweit eine neue Kunstrichtung, die sich in das kollektive Gefüge der Stadt einmischt. Sie ziehe zugleich den Kunstmarkt immer stärker in ihren Bann, betont Krämer. In den 2000er Jahren habe das Trendphänomen ‚Street Art‘ bereits viele erfolgreiche Künstler und Akteure hervorgebracht, die die Stadt zur „größten Galerie der Welt“ ihrer Kunst ausriefen. Die Urban Art sieht Krämer als Kunstbewegung, deren „Historie, Bedeutung und Potenzial in direktem Zusammenhang mit der weltweiten Verbreitung durch die Medien und die Macher selbst existiert und stetig wächst, ungeachtet nationaler Grenzen oder kultureller Unterschiede. Sie sind die jungen Kreativen, die sich die Stadt als Leinwand nehmen.“
Treffender hätte er es nicht beschreiben können. Auch in Portugal gibt es solch junge Kreative, die den Städten ein neues, buntes Image verleihen und langsam weltweit Ruhm erlangen. So beispielsweise Vhils, der mit seinen in Häuserwände gesprengten Portraits für Aufsehen sorgt und als einer der bekanntesten europäischen Street-Art-Künstler gilt. Oder die aus Carvoeiro stammende Tamara Alves, die bereits an mehreren gemeinschaftlichen Projekten wie „Swatch MTV Playground 2009“, „Pampero Public Art 2010“ oder „Walk & Talk 2012“ teilnahm und oft im Auftrag von Rathäusern sprüht. Zudem ist nach Ansicht der britischen Zeitung The Guardian eines der zehn besten Graffiti der Welt in Lissabon an der Aveni-da Fontes Pereira de Melo zu sehen. Es handelt sich um ein Werk der berühmten brasilianischen Künstler Os Gemeos und des Italieners Blu (s. ESA 9/2010), das 2010 im Rahmen des Projektes Crono gesprüht wurde. Crono wurde von einigen bekannten portugiesischen Sprühern, darunter Vhils, mit der Unterstützung des Rathauses von Lissabon ins Leben gerufen.
Nicht – oder noch nicht – so bekannt ist Stephen Jones. Der 23-Jährige aus Lagoa ist für die Graffiti zuständig, die seit geraumer Zeit einige Wände und Mauern im Raum Lagoa verzieren. Die União das Freguesias de Lagoa e Carvoeiro startete 2014 ein Projekt, dessen Ziel es ist, das Image der Gemeinde zu verbessern. Der erste Schritt bestand darin, dem Verfall überlassene Gebäude und Mauern frisch anzustreichen. Dies mag sich nach wenig oder nichts anhören, schließlich handelt es sich nicht um eine komplette Renovierung, das Ergebnis war jedoch extrem positiv. Wer sich noch an die schmutzige Mauer gegenüber der Post in Lagoa erinnert, weiß sicher, welch ein Unterschied es ist, seit diese strahlend weiß gestrichen ist. Dieses Projekt brachte die Gemeinde auf die nächste Idee: Die Mauern zu nutzen, um Passanten ein wenig von der Geschichte und der Tradition von Lagoa zu vermitteln. Der perfekte Partner dafür war Stephen
Jones, der als 10-Jähriger die ersten Wände mit seinem Tag, das heißt, seiner Unterschrift, besprühte, sich als Jugendlicher dem Style-Writing widmete, bei dem Buchstaben und Zahlen das Basiselement der Bildkomposition bilden, und in den letzten Jahren seine künstlerischen Graffiti von Menschenfiguren entwickelte. Für die Gemeinde von Lagoa sprüht er jedoch „lebensnahe“ Graffiti anhand von Fotos.
Sein erstes in dieser Zusammenarbeit gefertigtes Graffito, das an der Einfahrtstraße von Carvoeiro den Strand von Carvoeiro zeigt, begrüßt seit August 2014 all diejenigen, die das ehemalige Fischerdorf besuchen, und wird mittlerweile bestimmt so oft fotografiert wie der Strand an sich. Danach folgte an der nördlichen Zufahrtsstrasse von Lagoa ein Graffito, das eine Hommage an die Töpfer darstellt, denn Lagoa war einst ein großes Töpferzentrum und hat heute noch einige der traditionsreichsten Töpfereien der Region. In einer schmalen Gasse im Stadtzentrum von Lagoa, ist ein weiteres Graffito ebenfalls diesem Handwerk gewidmet. Stilistisch unterscheidet es sich stark von den anderen. Seit einiger Zeit sprüht Jones ein großes Graffito an der Nationalstrasse EN 125 in Richtung Portimão. Dieses soll Passanten historische Gebäude und andere Sehenswürdigkeiten von Lagoa zeigen. Unter anderem sprühte er die Kirche, das städtische Archiv, das Denkmal für die im Kolonialkrieg gefallenen portugiesischen Soldaten und das São José Kloster. Es lohnt sich also, die Geschwindigkeit zu reduzieren, um das Graffito genauer zu betrachten.
Geplant sind zudem ein Graffito mit dem Stadtwappen am östlichen Ortseingang von Lagoa, ein Bild des Strandes Paraíso an dessen Parkplatz in Carvoeiro und ein dem Wein gewidmetes Graffito am Haus und an der Mauer am Kreisverkehr in Lagoa nach Carvoei-ro, die erst vor kurzem für dieses Vorhaben frisch gestrichen wurden. Letzteres steht jedoch noch nicht fest, wie Rúben Palma von der Gemeinde gegenüber ESA erklärte. Ebenfalls im Gespräch sei eine Wandmalerei, die eine alte Frau am Fenster, einen Landwirt mit seinem Ochsenkarren und Weinreben zeigt.
Außer Stephen Jones sind auch andere Künstler von Lagoa an dem Projekt beteiligt. Für das Graffito am Aussichtspunkt des Strandes von Carvoeiro war Tamara Alves zuständig. Der Künstler Patico (s. ESA 10/14) hat das neue Stadtwappen entworfen und wird auch für das Graffito verantwortlich zeichnen. Die Sprayer Helder José (alias Bambi) und Phil Francis übernehmen die Verschönerung einiger Bushaltestellen an beliebten Stränden wie Benagil, Praia do Carvalho oder Praia da Marinha. Des Weiteren will die Gemeinde, ähnlich wie in der Rua das Flores in Porto, die Stromkästen der beiden Hauptstraßen von Carvoeiro besprühen lassen.
Doch die geplante Verschönerung besteht nicht nur aus Graffiti. In Carvoeiro stehen seit geraumer Zeit ein bunt bemaltes traditionelles Fischerboot sowie die traditionelle Steintafel mit dem Ortsnamen an der Ortseinfahrt. „Kleinigkeiten, die aber einen Unterschied machen“, so Rúben Palma. Am nördlichen Ortseingang von Lagoa soll das Graffito noch beleuchtet werden, Mandelbäume gepflanzt, weißer Kies ausgelegt und wie in Hollywood große 3D-Buchstaben mit dem Ortsnamen aufgestellt werden. Palma bedauert, dass die Gemeinde sich die Mühe gibt, die Orte zu verschönern und andere ihre Arbeit zerstören, denn es wurden nicht nur Tonfässer gestohlen, sondern auch das Graffito an der EN 125 verunstaltet. Rúben Palma lädt daher alle Sprüher dazu ein, sich dem Projekt anzuschließen. „In Lagoa gibt es noch viele dem Verfall überlassene Gebäude, die mit dem Einverständnis der Eigentümer verschönert werden können. Wer also sprühen will, kann und soll zu uns kommen.“
Zusatzinfo:
Unter https://streetart.withgoogle.com/de
hat man die Möglichkeit, urbane Kunst aus der ganzen Welt zu sehen. Anhand der Google Streetview-Aufnahmen kann der Benutzer zum Beispiel durch die Straßen von Buenos Aires in Argentinien, Malmö in Schweden oder Lissabon schlendern, die dortigen Graffiti sehen und mehr über die Künstler, ihre Kunstwerke und deren Entstehung erfahren. In Portugal erstellte Ivan Roca einen Lissabonner Graffiti-Führer und bietet geführte Touren an (https://www.facebook.com/Lisbonstreetarttours, Mob. 920 515 491). Nicht nur junge Menschen interessieren sich für Street Art. 90 % der Kunden von Ivan Rosa seien über 50 Jahre alt.
Text & Foto: Anabela Gaspar
In ESA 12/15