Das Akkordeon ist das Volksinstrument Nummer Eins in der Algarve, es begleitet den Volkstanz corridinho, gibt beim Neujahrssingen den Ton an und begleitet hin und wieder das Dreikönigssingen
Einst schickte der Gelbe Kaiser Huang Di seinen Gelehrten Ling Lun aus, um das „Lied des Phönix“ einzufangen. Ling Lun kam zurück mit dem Cheng, einem von ihm eigens für die Imitation der Tonfolge des Phönix entwickelten Tonerzeuger, basierend auf einem frei vibrierenden Stimmzungen-Prinzip. Das Cheng besaß unterschiedlich lange Bambuspfeifen, angeordnet wie die Flügel des mythologisierten Paradiesvogels, und wird aufgrund dieser Stimmzungen-Funktion als rudimentärer Vorläufer des heutigen Schifferklaviers betrachtet. Nach Europa gelangte das Cheng via Russland und entwickelte sich in der Hand österreichischer, deutscher und englischer Instrumentenmacher Anfang des 19. Jahrhunderts sehr rasch weiter. Die Handharmonika bekam Tasten, Knöpfe und einen neuen Namen: Acordion. Bis 1850 waren die meisten Akkordeons noch diatonisch gestimmt, sie klangen beim Auseinanderziehen und Zusammendrücken des Blasebalgs bei jedem Ton um eine Tonstufe unterschiedlich, was dem Instrument eine sehr eigene Klangfarbe verlieh, fast so, als könne es gleichzeitig lachen und weinen. Das chromatisch gestimmte Akkordeon hingegen, klingt synchron.
In die Algarve gelangte das Schifferklavier vermutlich mit Rückkehrern aus dem Zweiten Weltkrieg und sorgt seither in der regionalen Folkloremusik für Furore. Dreh dich, dreh dich, halt nicht an. Immer schneller kreisen die tanzenden Pärchen um sich selbst, hüpfen sechs Schritte über das Parkett, springen in die Höhe und stampfen im Dreiviertel-Takt nach weiteren drei Schritten gleichzeitig mit einem Fuß auf. Dann geht es wieder von vorne los, im Uhrzeigersinn, rechts herum. Dreh dich, dreh dich, halt nicht an. Das Akkordeon feuert den Tanz an, die Tanzenden spornen die Musiker an, das Tempo steigert sich nochmals bis zu einem musikalisch fröhlichen, überschäumenden Finale. Der bekannteste Volkstanz der Algarve heißt corridinho, er ist schnell, leicht zu lernen, macht Spaß, ist noch keine hundert Jahre alt und gleichzeitig mit dem triumphalen Einzug des Akkordeons in der lokalen Musikkultur entstanden.
Getragen von der steten Bereitschaft zur Geselligkeit der Menschen in der Algarve, passt das einzeln, wie im Ensemble vielseitig einsetzbare Instrument, auch besonders gut hierher. Die ersten überregional bekannten Akkordeonisten stammten aus Bordeira in der Gemeinde Santa Bárbara de Nexe bei Faro. José Ferreiro und João Bexiga. Beide Vollblut-Musiker beherrschten ihr Instrument virtuos, schrieben Musikstücke, traten solo, als Duo oder mit Orchester auf und brachten anderen das Akkordeonspiel bei. Spätestens seitdem verkörpert das Schifferklavier die Seele der Volksmusik in der Algarve, bekannt als Alma Algarvia, verewigt mit eigenem corridinho, sowie in etlichen weiteren bekannten Musikstücken für Dorffeste und Volkstänze. José Ferreiro lebte in Loulé in direkter Nachbarschaft zum Algarve-Volksdichter António Aleixo, der mit dem Musiker befreundet war, und unter anderem das Vereinslied für die von Ferreiro und Bexiga 1936 gemeinsam gegründete Gesellschaft zur Freizeitgestaltung Sociedade Recreativa Bordeirense in Bordeira betextet hat.
Neben Tanzmusik und traditionellem Liedgut existiert in Bordeira noch eine zweite, in der Algarve einmalige Musikkultur, die Charolas. Übersetzt heißt das Tabletts, im übertragenen Sinne, es ist angerichtet. Die Tradition dieses manchmal aus dem Stegreif improvisierten Gesangs mit Schifferklavier-, Triangel- und Tamburin-Begleitung zum Neujahrstag, begann als Pakt der Solidarität. Musiker zogen von Haus zu Haus, von Café zu Café, wünschten singend ein gutes neues Jahr, sangen davon, was besser werden sollte und wurden für ihren Gesang belohnt. Am Ende ihrer Neujahrstour teilten die Musiker die zumeist essbare Gage, bestehend aus Walnüssen, getrockneten Feigen, Mandeln und Königskuchen auf und schenkten die Kostbarkeiten Bedürftigen im Dorf. Gleichzeitig bietet der erste Januar eine ausgezeichnete Gelegenheit für die Dorfgemeinschaft, um sich zu treffen und das neue Jahr mit einem Tänzchen, bekannt als valsa das vivas, frei übersetzt, Walzer der Lebenden, zu beginnen.
Die Charolas-Tradition der gesungenen guten Wünschen zum neuen Jahr gab es aber in Bordeira schon bevor das Akkordeon die lokale Folkloremusik klangvoll bereicherte und steht von jeher in gewollter Distanz zu dem sonst an anderen Orten üblichen Dreikönigssingen, den sogenannten Janeiras rund um den sechsten Januar zum Dreikönigstag.
Inhaltlich bezieht sich der hiesige Brauch des Dreikönigssingens auf die Geburt von Jesus Christus und ist deswegen rein religiös motiviert. Örtliche Chorgruppen treten auf Dorfplätzen, in Gemeindebüros und Lokalen auf und besingen in zumeist wiederkehrenden Liedreimen die Ankunft des Heilands, manchmal begleitet von Triangel, Tamburin und Akkordeon. Natürlich findet in Bordeira auch Janeiras-Gesang statt, aber die Abgrenzung zwischen den beiden musikalischen Brauchtümern hat hier eine lange Tradition mit tiefer Bedeutung. Einst als Pakt geschlossen für Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit zu singen, besteht die Gemeinschaft von Bordeira nach wie vor darauf, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und singt darüber.
Musikliebhaber können sich darauf freuen, am Anfang des Jahres allerorts Dreikönigssingen zu hören. Wann, wo, welcher Chor auftritt, erfährt man am Schwarzen Brett in Kirchen, Postämtern, Gemeindebüros und überall dort, wo Plakate Veranstaltungen verkünden. Um den Charolas-Brauch zu erleben, muss man sich am Neujahrstag auf den Weg in die Gemeinde Santa Bárbara de Nexe auf den Rossio Platz begeben und auch hier ist das Schifferklavier die Klangseele der Stunde.
Das durch Luftzufuhr zum Leben erweckte Stimmzungen-Instrument ist in der Musikszene der Algarve als echtes Wahrzeichen etabliert und hat landesweit längst einen angestammten Platz im Orchester, in der Jazzmusik und auf dem Parkett der Weltmusik erobert. Das Quartett Danças Ocultas aus Águeda bei Porto zelebriert lokale Weisen ausschließlich mit diatonischen Akkordeons und zählt derzeit zu den angesagtesten Folklorebands überhaupt. Der 25-jährige João Barradas aus Porto Alto steht in der Liste der zehn besten Jazz-Akkordeonisten weltweit und Hugo Madeira aus Altura bei Castro Marim gewann im vergangenen Jahr die Akkordeon-Weltmeisterschaft der Kategorie „unter zehnjährig“ in Portimão. Mit finanzieller Unterstützung der Algarve-Vereinigung der Akkordeonisten Mito Algarvio mit Professor João Pereira an der Spitze, konnten im September letzten Jahres vier portugiesische Nachwuchsmusiker an der 70. Weltmeisterschaft Coupe Mondiale in Osimo in Italien teilnehmen und alle vier Preise mit nach Hause bringen. Das Akkordeon bleibt die Seele der Algarve und macht Musikgeschichte.
„Wenn man Musik nicht mehr hört, vergisst man sie“, sagte einer der beiden Akkordeonmusik-Urväter der Algarve, João Bexiga, einst in einem Interview, und damit er und alle anderen Akkordeonisten der Algarve der vergangenen hundert Jahre nicht vergessen werden, hat Francisco Sabóia, selbst Akkordeonist, seine bemerkenswerte, in 40 Jahren zusammengetragene Privatsammlung rund um das Schifferklavier, vor vier Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Porträtfotografien und Autogrammkarten bekannter Akkordeonisten, Pressefotos von großen Musikevents, Plakate, Notenbücher, diverse große, kleine und antike Schifferklaviere, Konzertinas und Ziehharmonikas zählen unter anderem zu den insgesamt über 3.000 Sammlerstücken, die im Akkordeon-Museum Casa do Acordeão in Paderne, dem Francisco Sabóia als Direktor vorsteht, ausgestellt sind.
Casa do Acordeão
Rua António Aleixo
Paderne
Mo – Fr 9.30 – 13 Uhr, 14.30 – 17.30 Uhr
Tel.: 289 543 094
(vorherige Anmeldung empfehlenswert)
Text: Catrin George in ESA 01/2018