Einladung zu einer intimen Begegnung
Er war der Dichter, der das traurigste Buch Portugals geschrieben hat, der drei weitere von ihm erfundene Dichter weltberühmt gemacht hat, und der ein einziges Mal bloß in seinem Leben richtig verliebt gewesen ist. Fernando Pessoa
Er kannte Lissabon. Und Lissabon kannte ihn. Den Dichter mit dem schwarzen Hut, Schnurrbart und Brille, der nimmermüde im Kosmos seiner Heimatstadt unterwegs war, der alles, was ihn beschäftigte, was er beobachtete, was er wahrnahm, zu Papier bringen musste. Der seinem inneren Drang folgend versucht hat, Träume mit Worten festzuhalten, bevor sie zerdrückt wurden im Korsett des Alltags.
Manisch befasste Fernando Pessoa sich ununterbrochen, Tag und Nacht, mit den Kindern seiner Stadt im Wechsel mit politischen Ereignissen, und kreierte auf seine ihm ureigene und unnachahmlich stringente poetische Art, ein literarisches Meisterwerk, das gleichzeitig ein lückenloses Zeitzeugnis Portugals von 1905 bis 1935 darstellt und sämtliche politischen und sozialkulturellen Umbrüche in jenen dreißig Jahren in Worte einfriert. Am Puls der Zeit entstanden ist sein Lebenswerk, ein Vermächtnis und Nationalgut sowie ein bedeutender Beitrag für die europäische Literaturwissenschaft an der Schwelle zum Modernismus.
Pessoa wollte die Literatur Portugals durchlüften, seine Kollegen wachrütteln, Stil und Ausdruck erneuern, und machte sich als Vorreiter des Impressionismus und Modernismus einen Namen. Im Laufe der Jahrzehnte scharten sich um seine enigmatische Gestalt als Herdenhalter etliche Avantgarde-Maler, Künstler, Journalisten und Dichter, die sich zu einem Salon zusammenschlossen und in einschlägigen Kneipen und Cafés in Lissabon verlustierten, um Projekte und Ideen auszubrüten. Dazu zählt das anno März 1915 unter Fernando Pessoas Schirmherrschaft geborene Blatt für internationale Literatur und Kunst namens „Orpheu“. Ein national umstrittenes und von den Göttern des portugiesischen Literatur-Olymps als absoluter Affront empfundenes Blatt, während die internationale Presse die Orpheu-Redakteure als die Avantgardisten Lissabons in den Himmel lobten. Neben avantgardistisch orientierten Texten und Zeichnungen als Persiflage gegen das bestehende Establishment, haben die Herausgeber obendrein erotische Poesie sowie satirisch-politische Karikaturen abgedruckt. Damals ein Skandal.
In der Rolle des Enfant terrible, des Provokateurs und Worte-Aufwieglers gefiel sich Fernando Pessoa besonders und sorgte mit seinen Veröffentlichungen regelmäßig für Pro und Contra. Was schließlich die Aufgabe der Literatur sei und die Mission eines jeden, der das Wort als Werkzeug für die Darstellung seines Ichs erwählt.
Seit seinem sechsten Lebensjahr diente das Wort Fernando Pessoa als Werkzeug, sogar an seinem Todestag am 30. November 1935 schrieb er noch seine letzten Zeilen „Ich weiß nicht was morgen sein wird“.
Fernando Pessoas Nachlass, seine Korrespondenz, seine Veröffentlichungen sowie eine Kommode mit vier Schubladen gefüllt mit über 80.000 Notizen blieben dort, wo er in den letzten 15 Jahren seines Lebens gewohnt und gearbeitet hat: In der Rua Coelho da Rocha Hausnummer 16/18 im Stadtteil Campo de Ourique, wohin das Museumshaus Casa Fernando Pessoa seit 1993 Besucher zu einer intimen Begegnung mit dem Dichter einlädt. Nach über einem Jahr Umbauarbeiten empfängt die Casa ihre Besucher seit Ende August nun in neuem Gewand. Der Eingang ins Haus ist geblieben – doch die Tür ist neu. Modern ist sie, barrierefrei gestaltet und betrachtet sich sinnbildlich als Tür zu einer erneuerten Auseinandersetzung mit dem Dichter und seinen von ihm erfundenen Dichtern. Ein tiefsinniges Bild für den Zutritt zu Haus und Heim, zum Rückzugsort von Fernando Pessoa, zu seinem intimen Lebensbereich.
Fünfzehn Jahre, von 1920 bis 1935, hat Pessoa sich hierher zurückgezogen, hat hier gelesen, nachgedacht, an seinem Lebenswerk gearbeitet. Pessoas Charisma zog nach seinem Tod nie mehr aus dieser Wohnung aus. Sein Esprit, seine Eigenwilligkeit, sein Genie, blieben zwischen den Wänden an seinem bescheidenen Mobiliar haften. Seine Aura ist überall in den seit dem Umbau erweiterten Räumlichkeiten, in der Bibliothek, im Auditorium, in der gesamten Ausstellung rund um seine Person und seine von ihm kreierten fremden Ichs, spürbar präsent. Die Porträts von ihm, von Júlio Pomar und Almada Negreiros, diverse Fotoporträts, sowie eine Reihe persönlicher Gegenstände potenzieren dieses Gefühl noch.
Und die Kommode, an deren Kante gelehnt Pessoa die anderen drei bedeutenden portugiesischen Dichter, Ricardo Reis, Alberto Caeiro und Álvaro de Campos, auferstehen ließ, und unter deren Namen er triumphale Oden, heimatverliebte Strophengesänge und philosophische Poesie verfasst hat? Diese Kommode war Pessoas nächtlicher Musen-Anker, in deren Schubfächer seine unveröffentlichten Gedankenfragmente auf abertausenden Papierbögen notiert Platz fanden, wo seine Tagebücher, seine Journale darauf gewartet haben, dass sie öffentlich Beachtung fänden – und finden. Eingefangen vom Geist des Dichters, kann man sich in der Casa Fernando Pessoa vollkommen im Sog der Pessoa-Poesie verlieren und wenn man schweigt und lauscht, ihn mit Tinte und Feder über ein noch unbeschriebenes Blatt Papier kratzen hören.
Infos:
Casa Fernando Pessoa
Rua Coelho da Rocha 16, 18
1250-088 Lissabon
Di – So 11 – 17 Uhr, montags geschlossen
visitas@casafernandopessoa.pt
www.casafernandopessoa.pt
Text: Catrin George Ponciano in ESA 11/2020
Fotos: EGEAC © José Frade; CM Lisboa; Patíco Arte