Vom Ammersee zum Atlantik
Der renommierte Bildhauer Christian Tobin zieht um
Ein wesentlicher Bestandteil von Christian Tobins Werk sind hydrokinetische Steinskulpturen. Die kinetische Kunst ist eine selbständige Richtung der zeitgenössischen Kunst, bei der die Bewegung – und damit auch die Dimension der Zeit – zum Gestaltungsprinzip erhoben wird
Kinetische Skulpturen: Bereits in den 80er Jahren entwickelt Tobin die sogenannten floating spheres, bei denen eine meist mehrere Tonnen schwere Steinkugel auf einem hauchdünnen Wasserbett schwimmt und sich beständig dreht. Als Folge vieler (meist schlechter) Plagiate dieser Arbeit wendet sich der Künstler in den 90er Jahren anderen plastischen Formen zu, die er mit der gleichen Technologie in Bewegung versetzt. Eine Revolution: Während sich die Kugeln noch in sich selbst ruhend drehten, ohne ihre äußere Form zu verändern, vollführen die Skulpturen der neuen Generation einen raumgreifenden Tanz mit schwingenden, pendelnden Bewegungen.
Die Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen führt Tobin zu tanzenden Steinsäulen und Säulengruppen sowie zu den amorphen Formen eiszeitlicher Gletscherfindlinge. Durch den verstärkten Einsatz von Wasser als skulpturalem Element wird das Spektrum der ästhetischen Möglichkeiten und inhaltlichen Aussagen erweitert. Es entstehen weltweit etliche Groß-Skulpturen im öffentlichen Raum sowie kontemplative Werke in Privatgärten. Allen gemeinsam ist die Bewegung als integraler Bestandteil des Kunstwerkes. Sie schafft Präsenz und Wahrnehm-barkeit, sie erleichtert den Zugang zum Werk, und sie fordert vom Betrachter Partizipation.
Body landscapes: Christian Tobin überrascht hier in mehrfacher Hinsicht: Das Material Stahl, ungeschönt, mit deutlich sichtbaren Bearbeitungsspuren, das Format eher wohnzimmertauglich. Nichts bewegt sich. Sind das nun Bilder, die da vor uns an der Wand hängen – gehalten durch schwere Anker? Dafür spricht die Fläche, der Rahmen, die Farbigkeit. Oder doch Skulpturen, geschaffen mit den Mitteln und der Vorgehensweise des Bildhauers, dreidimensional, raumgreifend, dinglich?
Wenn Tobin malt, dann geht er anders zu Werke als ein „normaler“ Maler. Er appliziert nicht etwa
nur Farbe auf einen Malgrund, sondern er ist inspiriert vom Material des Malgrundes selbst – in diesem Fall Stahl. Er rückt ihm mit Schneidbrennern und Plasmaschneidern zu Leibe, durchbricht die Fläche, bezieht die dahinter liegende Wand als zweite Ebene ein, spielt mit Licht und Schatten. Der Stahl reagiert in seiner Art auf diese Eingriffe. Er bildet Anlauffarben, er korrodiert, geschmolzenes Material bildet tröpfchenartige Gebilde entlang der Schnittkanten. Wir erkennen zebraartige Strukturen, Formwiederholungen staffeln sich zu räumlichen Gebilden, daneben ruhige, beruhigende Räume. Das Resultat kommt uns seltsam vertraut vor. Wir ahnen Körper, Frauenkörper, liegend, stehend, sitzend. Sie scheinen die Fläche zu sprengen, sich daraus hervor zu wölben. Und plötzlich tritt die Frage, ob das nun Malerei ist oder Skulptur, in den Hintergrund. Das Arbeiten unter dem Diktat der Funktion bedeutet für Tobin keinesfalls eine Einschränkung. Er versteht es, aus trockenen Zahlen-kolonnen Werke von großer Poesie zu schaffen.
Sonnenuhren und Skulpturen mit astrophysikalischem Hintergrund: Es mag im ersten Moment paradox scheinen, wenn sich ein Künstler des 21. Jahrhunderts mit dem Thema Sonnenuhren auseinandersetzt. Christian Tobin geht trotzdem diesen Weg. Mit dem ihm eigenen Forschergeist nimmt er sich dieser Thematik an und führt sie in neue ästhetische wie auch funktionale Dimensionen.
Natürlich geht es dem Künstler hier nicht um Zeitmessung. Vielmehr bieten seine Skulpturen dem Betrachter eine große Zahl astrophysikalisch relevanter Informationen, die nicht nur unser Sonnensystem und die Erde betreffen, sondern letztendlich auch den Menschen selbst. Neben der heute meist üblichen Anzeige der wahren Ortszeit kann eine Sonnenuhr unter anderem die gesetzliche Zeit anzeigen, Datum, Solstitien und Äquinoktien, babylonische und italische Zeit, Temporalstunden, Höhe und Azimut von Sonne und Mond, die Siderische Zeit (Sternzeit) oder den Tierkreis.
Obwohl Tobin naturgemäß die Priorität auf die skulpturale Qualität seiner Sonnenuhren legt, achtet er immer auch auf äußerste Präzision. In Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftler Yves Opizzo entwickelt er Messverfahren, die ihm ermöglichen, die Koordinaten auch auf unebene Untergründe zu projizieren. Eine seiner großformatigen Bodensonnenuhren gilt als genaueste Sonnenuhr der Welt mit einer Ablesegenauigkeit von etwa zwei Sekunden.
Interview
Was hat Sie bewogen, Deutschland zu verlassen und nach Portugal zu ziehen?
Am Anfang war da die Neugier, die Freude daran, das ganze Leben total umzukrempeln, ein neues Land zu erkunden und eine neue Sprache zu lernen. Die Sonne, das Meer, der Wind, die Klippen, die Strände und – ganz wichtig – die Menschen. Und plötzlich gab es diese Möglichkeit, wie eine offene Tür, denn die Kinder und all ihre Freunde waren ziemlich zeitgleich ausgezogen. Wir haben uns fast nicht mehr gefunden in unserem großen Haus am Ammersee. Wir ahnten, dass da wohl eine neue Phase in unserem Leben anbricht und die Zeit gekommen war, unseren Kopf zu re-setten.
Aber Sie stecken mitten im Berufsleben, brauchen viel Platz zum Arbeiten. So ein Umzug ist etwas anderes als einfach nur ein „Haus im Süden“ zu beziehen.
Allerdings… Nun, wir befinden uns in der glücklichen Situation, überall auf dieser Welt arbeiten zu können. Entscheidend ist, dass wir erreichbar sind und einen geeigneten Arbeitsplatz haben. Dass die Infrastruktur funktioniert und uns das Klima entgegenkommt. Nach so vielen kalten Wintern im Süden Deutschlands freuen wir uns auf das Arbeiten in der Wärme. Alles hat uns die Entscheidung für die Algarve leicht gemacht. Etliche Reisen in der Vergangenheit und im Vorfeld dieses Umzugs haben uns ein Gefühl vermittelt vom Leben hier, von der Mentalität der Menschen und von der Landschaft. Sehnsucht ist gewachsen und eine unbändige Freude an unserer Zukunft. Wir wissen, dass wir hier nicht nur gut leben werden, sondern auch gut arbeiten können.
Mit Steinen. Bietet Ihnen Portugal Besonderes?
Selbstverständlich spielen für mich die Steine auch eine wesentliche Rolle. Es gibt in Estremoz den besten Marmor Europas, das wird ein Vergnügen sein, die richtigen Blöcke vor Ort auszuwählen. Die alten Steine bei Loulé, Sandsteine aus Silves, Granit aus Monchique. Ich muss das alles erst einmal in Ruhe studieren. Auch die Gebärenden Steine in der Serra da Freita im Norden. Darüber hinaus existiert in Portugal ein uraltes Verständnis im Umgang mit Stein. Das geht weit über Know-how hinaus, das ist tief verwurzelt in der Seele der Menschen und in der Architektur.
Vom Ammersee zum Atlantik… Welche Rolle spielt das Wasser in Ihrem Leben?
Wasser ist für mich schon seit Langem ein zentrales Thema und es scheint immer wichtiger zu werden. Das Gewirr von Spiegelungen auf der Oberfläche bildet ein komplexes Muster, das die Form der Wellen nur ahnen lässt. Es wiederholt die Farben des Himmels, der Wolken, der umgebenden Landschaft. Die Sonne wirft Glanzlichter, und wenn ich steil ins Wasser blicke, erkenne ich mein eigenes Spiegelbild.
Wellen und die Bewegung von Wasser sind für Ihre Arbeit von großer Bedeutung. Was hat Sie dazu verleitet?
Beobachtungen. Ich habe oft am Ammersee gesessen, aufs Wasser geschaut und festgestellt: Wellen sind abhängig von der Größe des Gewässers, von der Länge des Weges, den sie zurückgelegt haben. Sie entstehen durch Druckunterschiede und Verwirbelungen des Windes. Sie geben uns also auch einen Hinweis auf die Wege, die der Wind genommen hat, bevor er auf die Wasseroberfläche traf und damit auf die umliegende Landschaft. Hier am Atlantik ist das ähnlich und doch so anders. Ich werde noch viel aufs Wasser schauen und lernen müssen. Ich freue mich darauf. Und auf unsere neue Zukunft an der Algarve.
Text: Rolf Osang; Foto: Christian Tobin
In ESA 05/16