Teppichkunst aus dem Herzen des Alentejo
Die Teppiche aus Arraiolos sind berühmt für ihre facettenreiche künstlerische Mustervielfalt im Kreuzstich. Sie werden nach wie vor von Frauen in Handarbeit gestickt
Mitten im Alentejo zwischen Monte-mor-o-Novo und Estremoz im Herzen des Distrikts Évora an der Nationalstraße N4 gelegen, breitet sich die einstige Grafschaft und heutige Kleinstadt Vila de Arraiolos auf einem Hügel aus, überragt von einer mittelalterlichen Festung. Von den Burgzinnen auf der Hügelkuppe genießt man ein Panorama mit Ausblicken über die sanft hügelige Hochebene des Alentejo bis nach Montemor-o-Novo und Évora Monte. In den verwinkelten Gassen von Arraiolos gibt es eine Menge Sehenswürdigkeiten, Kirchen sowie einstige Chalets zu erkunden, die regionale Gastronomie lockt mit edlen Weinsorten, Rohmilchkäsespezialitäten sowie raffiniert gefüllten Teigpasteten. Richtiggehend berühmt jedoch ist der Ort für seine handgestickten Wollteppiche: Os Tapetes de Arraiolos.
Wann genau die Teppichstickkunst in Arraiolos begonnen hat, kann niemand genau sagen. Historische Erkundungen haben zwei Theorien entstehen lassen, die chronologisch in die Annalen von Arraiolos passen und die für die Produktion erforderlichen kunsthandwerklichen Synergien der Handwerkskünste Spinnen, Färben, Weben und Sticken belegen. Eine Theorie basiert auf Inventarlisten über Teppichbestände aus Arraiolos in ehemaligen Klosteranlagen in Évora und Umgebung, sodass die Vermutung naheliegt, die Stickkunst habe dort bereits vor dem 16. Jahrhundert begonnen. Die zweite Theorie stützt sich auf handwerkliches Wissen von Mauren aus der Weberzunft, die sich in Arraiolos niedergelassen hatten, nachdem sie das Mouraria-Viertel in Lissabon wegen des 1496 in Kraft getretenen Erlasses zum Ausschluss von Juden und Muslimen verlassen mussten.
Archäologische Funde von Färbebecken auf dem Marktplatz in Arraiolos, die in Form und Größe denen geähnelt haben, die im Gerberviertel Chuwwara in Fès el-Bali in Marokko heute immer noch verwendet werden, dokumentieren eine rege Wollfärbeindustrie seit dem späten 15. Jahrhundert bis zu Beginn
des 20. Jahrhunderts, als der Marktplatz befestigt wurde.
Mit Ankunft der Mauren und ihrer speziellen Wollfärbetechnik sowie zusätzlich inspiriert von der filigranen Mustervielfalt orientalischer Teppiche aus Persien und Indien, wurden die Arbeiten aus Arraiolos ab Mitte des 16. Jahrhunderts bunter und größer. Ab dem 17. Jahrhundert entwickelte sich allmählich ein lokal markanter, ästhetischer Aspekt der Stickmuster: Die Stickerinnen von Arraiolos glänzten mit raffinierten Entwürfen, mischten klassische Motive mit orientalischen Elementen und verliehen somit jedem Teppich ein einmaliges Aussehen. Ihre von Hand gestickten Kunstwerke waren begehrt, bedeckten die Böden in einstigen Königspalästen und liegen heute noch in Regierungsgebäuden, Herrenhäusern, Stadtverwaltungen und Hotels, nicht nur in Portugal.
Die Teppichindustrie verschaffte vor allem Frauen entlohnte Arbeit von der Schafschur bis zum Sticken. Jede Frau in Arraiolos und Umgebung konnte sticken und arbeitete entweder in Vollzeit in den Fabriken oder in Heimarbeit zu Hause. Chronisten nennen das Teppichgewerbe von Arraiolos deswegen Heimkunst, auf Portugiesisch Arte em Casa, denn das Handwerk gab praktisch jeder Frau aus der Arbeiterklasse oder Bauernschaft die Möglichkeit zu einer eigenständigen Beschäftigung und dadurch eine für die damals herrschende feudale Gesellschaftsordnung völlig neue Lebensperspektive.
Das Geschäft florierte über vierhundert Jahre lang, bis vor etwa dreißig Jahren der industriell gefertigte Teppich den handgestickten aus Wolle nach und nach vom portugiesischen Markt für Innenausstattung und Wohnaccessoires verdrängte. Industriell gefertigte sind preiswerter, bieten dem Kunden modernes Design und sind vor allem in großer Auswahl sofort verfügbar. Diesem Konkurrenzkampf konnten die Manufakturen in Arraiolos außer Qualität und Tradition wenig entgegensetzen. Sie bauten auf Stammkundschaft; viele Betriebe mussten schließen. Die allgemeine Wirtschaftskrise in Europa provozierte dann einen weiteren Einbruch auf dem Teppichmarkt in Heimarbeit. Viele Stickerinnen verloren ihre Stelle oder ihr Nebeneinkommen und mussten sich nach einer neuen Beschäftigung umsehen. Lediglich einer Handvoll Unternehmerinnen ist es gelungen, die Tradition der Teppichstickkunst aufrecht zu halten und sich mit neuen Ideen ihres Handwerks eine Marktnische zu erobern. Sie stellen Produkte her, die weniger kostenintensiv und zeitaufwendig sind als Teppiche. Mit Schafwolle gestickte Kissenbezüge, Wandteppiche und Handtaschen als Beispiel.
Unterstützung für ihren Kampf um den lokalen Kulturerhalt der Teppichkunst bekamen die Unternehmerinnen, als 2013 das Centro Interpretativo do Tapete de Arraiolos eröffnete. Das Museum dokumentiert die handwerkliche, ästhetische und artistische Entwicklung der Wollteppiche aus Arraiolos seit dem 16. Jahrhundert mit lokalen Funden sowie mit Leihgaben diverser Museen aus Portugal und Spanien und sensibilisiert Besucher für die traditionelle Teppichkunst von Arraiolos mit Live-Aktivitäten sowie Ausstellungen über die einzelnen Produktionsschritte.
Der Rahmen wird aus Pflanzenfasern gewebt, aus Kostengründen überwiegend aus Jute. Für kleinere Teppiche und Brücken werden Bast, Hanf und Leinen verwendet. Die Maschen sind grob gewebt, sodass die Stickerin die Maschen während der Vorbereitung und späteren Stickarbeit einzeln abzählen kann, damit das angestrebte Muster gleichmäßig akkurat entsteht. Bevor die Stickerin ihr Werk beginnt, entwirft sie das Muster. Hierfür markierte sie früher mit Federkiel und Tinte jeden Stich mit einem Kreuz direkt auf das Gewebe. Heutzutage passiert das Vorzeichnen mit einem Bleistift auf Kästchenpapier und die Stickerin kann die Vorlage mehrmals verwenden.
„Die Arbeit beginnt immer links unten am Rahmen“, erklärt Deolinda do Carmo, Teppichstickerin und Mitarbeiterin im Centro Interpretativo do Tapete de Arraiolos. Mit ihrem in über dreißig Jahren erworbenen Wissen demonstriert sie täglich mehrere Stunden lang jeden einzelnen Arbeitsschritt im eigens dafür im Museum eingerichteten Atelier. „Zuerst kommen die äußeren Konturen dran, danach die inneren, dann die Füllung“, zeigt sie. Im schrägen Kreuzstichverfahren, dem sogenannten Ponto de Arraiolos, entstehen Stich um Stich Konturen von exotischen Blüten und Vögeln, Jagdmotive, Initialen oder Familienwappen. Danach werden die Konturen gefüllt. Nach deren Ausfüllen beginnt der eigentliche Löwenanteil der Arbeit: Das Ausfüllen der Hauptfläche mit der gewählten Hauptfarbe. Zum Schluss sind die Fransen dran, die auf einer Fransenbank in einem ausgeklügelten Verfahren über ein Holzschiffchen über Kreuz geschlungen Schlaufe um Schlaufe entstehen.
Dass der Arraiolos-Teppich trotz Preiskampf überlebt hat und nach wie vor traditionell mit Schafwolle in Handarbeit gestickt wird, verdankt die Gemeinde Frauen, die sich finanziell für das Überleben ihres Handwerks eingesetzt haben, beständig Teppiche und Accessoires für Straßenmärkte produzieren, Reparaturen ausführen und Geschäfte betreiben, in denen Kunden Wollteppiche fertig kaufen oder nach Wunsch nach Maß anfertigen lassen können. Ein Quadratmeter Sticken dauert wie eh und je im Durchschnitt zwei Wochen und kostet zwischen 150 und 200 Euro. Für ein sechs Quadratmeter großes, von Hand gesticktes Unikat muss man somit etwa 1.200 Euro ausgeben. Ein bescheidener Betrag für eine Lebensanschaffung, aber ein großer Beitrag zum regionalen Kulturerhalt und für die Frauen von Arraiolos.
Text: Catrin George
ESA 12/16
Centro Interpretativo do Tapete de Arraiolos
Praça do Municipio 19
Di – So 10 – 13 & 14 – 18 Uhr
www.tapetedearraiolos.pt
Tel. 266 490 254
Zum Vormerken:
Juni 2017:
O Tapete está na Rua 2017
5 Tage Open-Air-Teppichkunst auf der Straße,
Ausstellung und Verkauf in der Innenstadt und am Marktplatz.
Ende Oktober/Anfang November 2017:
Mostra Gastronómica / Festival da Empada / Feira dos Tapetes de Arraiolos
11 Tage kulinarisches Festival in Kombination mit Teppichausstellung
in der Messehalle.
Anfahrt Arraiolos:
A2 Algarve Richtung Lissabon. Bei Alcácer do Sal auf die A6 Richtung Évora,
Ausfahrt Montemor-o-Novo, N4 Richtung Estremoz. Abfahrt Arraiolos.