In der Algarve sind nicht nur Fischerei, Bäckerkunst oder Kunsthandwerk Traditionen, sondern auch Tänze wie der corridinho, volkstümliche Trachten und alte Lieder. Doch damit das auch so bleibt, müssen diese Traditionen am Leben erhalten und weitergeben werden
Der portugiesische Ethnologe António Jorge Dias (1907-1973) forderte einst: „Wir haben die Pflicht, alles zu retten, was noch zu retten ist, sodass unsere Enkel, obwohl sie in einem anderen Portugal leben als in dem, in dem wir aufgewachsen sind, so portugiesisch bleiben wie wir und ihre kulturellen Wurzeln tief im historischen Erbe bewahren.“ Genau das nahmen sich die Gründer des Rancho Folclórico e Etnográfico de Odiáxere vor, als sie am 17. März 1984 die Gruppe ins Leben riefen. Luís Filipe Alves Morgado ist seit der Gründung einer der Tänzer und mittlerweile seit fast 20 Jahren Vorsitzender der Gruppe. Einmal in der Woche, immer freitags, treffen sich die zirka 50 Mitglieder, darunter Tänzer, Akkordeonisten und Gitarristen, um zu proben. Vor allem im Sommer haben sie viele Aufführungen, meistens in Hotels, aber auch bei städtischen und regionalen Festen. Ziel der Vereinigung, die die Tänze so authentisch wie möglich vorträgt, ist es, dem nationalen und internationalen Publikum die Musik, Tänze, Trachten und Bräuche des 19. Jahrhunderts näher zu bringen.
Wer denkt, dass die Gruppe zum Großteil aus älteren Mitgliedern besteht, irrt sich. „Der Rancho Folclórico e Etnográfico de Odiáxere hat zwei- bis achtzigjährige Mitglieder“, so Luís. Natürlich machen die Jüngsten mit, weil ihre Eltern Teil des Vereins sind. „Allerdings gibt es auch Jugendliche, die sich aus eigener Motivation angemeldet haben. Aus Interesse am kulturellen Erbe, weil Freunde bereits mitmachten oder einfach, weil es ihnen Spaß macht“, fügt Luís hinzu.
Mehrmals im Jahr nehmen sie an Folklorefestivals teil, bei denen sich Gruppen aus ganz Portugal treffen. Die genaue Anzahl der -Ranchos Folclóricos in der Algarve oder in Portugal ist schwer zu beziffern. Verschiedene Quellen berichten über etwa 20 Gruppen in der Algarve, wahrscheinlich sind es mehr. Luís konnte dazu ebenfalls keine genauen Angaben machen. Nachdem er einige aufzählte, bemerkte er mit einem Schulterzucken: „Ach, es gibt jede Menge!“ Allein Tavira, Olhão und Loulé verfügen über jeweils drei Folkloregruppen, in Faro gibt es zwei und weitere gibt es unter anderem in Silves, Castro Marim, Lagoa, Portimão, Alcoutim und São Bartolomeu de Messines. Lediglich sieben dieser Vereinigungen sind Mitglied der Föderation der portugiesischen Folklore (www.ffp.pt), die insgesamt 451 Mitglieder zählt. Da nicht einmal die Hälfte der ranchos der Algarve zur Föderation gehören, kann man davon ausgehen, dass es auch landesweit viel mehr Folkloregruppen gibt. Hinzu kommen die Gruppen, die weltweit in portugiesischen Diasporas von mit saudades erfüllten Portugiesen gegründet wurden, und von denen 19 Mitglieder des Zusammenschlusses sind.
Relikte oder Erfundenes?
Luís versichert, dass die Elemente vergan-gener Zeiten originalgetreu präsentiert werden. Weder die Tänze, die Musik oder die Trachten wurden verändert, um sie aufregender oder attraktiver zu gestalten. Die Trachten der Gruppe aus Odiáxere folgen den Vorbildern des 19. Jahrhunderts, die sie alten Dokumenten und Büchern entnehmen und werden meistens von Schneidern angefertigt. Manche Trachten stammen noch von vorherigen Generationen und sind somit wahre Relikte.
Die Gewänder sind nicht nur aus anthropologischer und ethnographischer Sicht interessant, sondern auch aus soziologischer, historischer und ökonomischer. Es besteht keine einheitliche Nationaltracht, stattdessen zeichnet sich Portugals Folklore durch eine Vielzahl davon aus. Sie verkörpern nicht nur bestimmte Lebensweisen, sondern sind auch Ausdruck der geographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekte der Region. Ihr Aussehen variiert abhängig von Geschlecht, Alter und Berufsstand. So können Bauern von Fischern unterschieden werden, Bäcker von Schmieden oder Schäfer von Schuhmachern.
Die Farbenpracht der Landschaft der Algarve spiegelt sich allerdings nicht in den regionalen Gewändern wieder. Die klassische Tracht der Männer ist von dunklen Farben geprägt. Auch die der Frauen ist eher schlicht und steht somit im Gegensatz zu Trachten aus anderen Regionen, wie beispielsweise die bunte, rotlastige Kluft aus Madeira, oder die aus Nazaré, die sich durch bunte, grelle Stoffe auszeichnet, auf die jede Menge Blumen gestickt sind. Die Röcke der Algarve-Trachten sind hingegen meistens einfarbig, eine bunte Bordüre schmückt den Saum und eine weiße, mit Spitzen verzierte Schürze fällt über den Rock unter dem hohe weiße Leinenstrümpfe getragen werden. Die Blusen sind meist weiß, langärmlig und mit Spitze verziert. Außerdem tragen sie braune Stiefel und einen Hut, darunter einen blumigen Schal, der oftmals unter dem Kinn zusammengebunden wird.
Trotz Bemühungen, die Trachten so authentisch wie möglich zu halten, kann es heute dazu kommen, dass das Erscheinungsbild nicht ganz originalgetreu ist. Das kann beispielsweise an der Verwendung anderer Stoffe liegen – statt Leder wird Imitat verwendet oder statt Seide Baumwolle. Eine interessante Hybridität ist dann zu beobachten, wenn Trachten zusammen mit modernem Schmuck, gefärbten Haaren, Tattoos oder Piercings getragen werden. Dies könnte zur Diskussion anregen, ob es sich dann noch um die „reine“ Tradition handelt und ob es eine solche überhaupt gibt, denn Kultur ist schließlich immer im Wandel. Jede Aufführung an sich ist inzwischen ein Zusammentreffen von Tradition und Moderne, denn die ranchos treten auf Bühnen auf und sind dabei von Elektronik umgeben.
So schlicht, wie die Beschreibung der Trachten wirken mag, ist die Folklore der Algarve jedoch ganz und gar nicht. Bei dem Tanz corridinho, einem der wohl typischsten Tänze der Region, bewegen sich die Füße der Tänzer so schnell, dass das Auge kaum folgen kann. Tanzpaare wirbeln dabei gemeinsam über das Parkett, sodass sich die Röcke der Damen anheben und einem beim Zuschauen schwindelig werden kann. Durch den großen Kreis, der aus Tanzpaaren gebildet wird und durch Soloeinlagen, gestaltet sich der Tanz als harmonisch und aufregend zugleich. Ähnlich sieht es mit dem Baile de Roda Mandado aus: Auch dieser Tanz beeindruckt durch die schnellen Schritte der Tänzer, die sich dennoch synchron bewegen. Die Besonderheit an diesem Tanz ist, dass die Tänzer Anweisungen befolgen, die ihnen der mandador mitteilt. Die Tänze sowie die Lieder entnehmen Luís und die Mitglieder seiner Gruppe ebenfalls verschiedenen Dokumentationen oder lassen sich diese von älteren Menschen beibringen, die ihr Wissen wiederum von ihren Eltern oder Großeltern übermittelt bekamen.
Trachten und Folklore live erleben
Wer sich für die altertümlichen Trachten der Region interessiert, hat die Möglichkeit verschiedene Museen an der Algarve zu besuchen. Im Museu do Traje in São Brás de Alportel und im Museu Regional do Algarve in Faro können sämtliche Trachten bestaunt werden. Auch gibt es mehrere kleine ethnografische Museen, beispielsweise das Museu Etnográfico de Espiche, das anhand von 220 Miniaturfiguren das traditionelle Algarve-Leben darstellt. Wer Folkloregruppen live sehen möchte, um sich ein Bild von den Tänzen, der Musik und den Trachten machen zu können, hat dazu die Möglichkeit bei vielen der kleinen regionalen Feste. Zudem findet in Faro jährlich das große internationale Folklorefestival FolkFaro statt, bei dem Gruppen aus der ganzen Welt auftreten.
Für die Zukunft hat Luís einen einzigen Wunsch: „Dass es weitergeht! Das ist das Wichtigste.“ Luís und seine Gruppe wollen auch weiterhin Traditionen in die breite Masse tragen und somit Jorge Dias´ Appell an die Gemeinschaft umsetzen.
Text und Fotos: Jana von der Heyde in ESA 06/2018