Viele halten Graffiti für Vandalismus, für die Menschen in Olhão ist es Identität, Kunst und Lebensgefühl
Olhão ist keine Schönheit. Seit dem Niedergang der fischverarbeitenden Industrie hat die Stadt eine der höchsten Arbeitslosenquoten des Landes. Abgesehen von der nahen Ria Formosa und den verwinkelten Gassen des alten Hafenviertels gibt es nichts, was Besucher hier her locken würde. Ganz im Gegenteil, die nördlichen und östlichen Randgebiete mit ihren seelenlosen mehrstöckigen Wohnblocks haben jene Tristesse Chemnitzer Plattenbauten. Und gäbe es nicht diese frechen Jugendlichen, die mit Sprühdosen Farbe an die zerbröckelnden Mauern, Hausfassaden, Brücken und Wassertürme zaubern würden, könnte Olhão auf der Skala der hässlichsten Städte Portugals einen der vorderen Plätze belegen.
,,Ich bin für eine Kunst, die etwas anderes tut, als auf ihrem Arsch im Museum zu sitzen. Ich bin für eine Kunst, die entsteht, ohne zu wissen, dass sie überhaupt Kunst ist“, bemerkte einst Ellen Hulda Johnson anlässlich einer Claes Oldenburg Ausstellung. Mr. SEN, Galionsfigur der Sprayer-Szene in Olhão kennt weder die 1992 verstorbenen amerikanische Professorin für Moderne Kunst noch den schwedischen Künstler, der neben Andy Warhol und Roy Lichtenstein zu den wichtigsten Vertretern der Pop-Art gehört. Eins haben sie aber gemeinsam die farbenfrohe Exponierung ihrer Werke. SEN erinnert aber auch an das Ungeheuer von Loch Ness; jeder kennt es, doch kaum einer hat es jemals gesehen. In Olhão findet man seine Bilder fast in jeder Straße. Und sie sind beeindruckend, fantasievoll und mannigfach. Dabei ist der 24-jährige Dário Silva, der sich hinter dem Pseudonym SEN versteckt, ein ganz normaler unauffälliger Typ mit Baseballkappe, Jeans, T-Shirt und Kapuzenjacke, ein Autodidakt, der mit zwölf Jahren seine ersten Bilder heimlich und überwiegend nachts an Hauswände gesprüht hat. Inzwischen sprüht er selbst an sonnigen Nachmittagen entlang der viel befahrenen EN 125 und signiert seine Kunstwerke mit telefonischer Kontaktadresse. Seine Popularität wächst mit jedem Werk. Aufträge bekommt er sogar von lokalen Firmen und aus dem Rathaus. Im Juni 2009 verschönerten er und seine Sprayer-Freunde zwei Hausfassaden in der Rua Dr. João José Mendonça Cortez Pink Panther und Blue Bean. Die Bewohner des Viertels sind mittlerweile so stolz auf ihre poppigen Hausgiebel, dass SEN bereits Anfragen hat, Kinderzimmerwände und Autohäuser zu gestalten. ,,Mir geht es nicht um die große Kohle“, erklärt er, ,,wichtiger ist der Fun-Faktor. Den hatten wir letzten September hier in einem Internationalen Arbeitscamp, eine Initiative des portugiesischen Jugendinstituts. Ingesamt 17 Jugendliche aus zehn Ländern reinigten hässliche Fassaden von Verschmierungen und peppten künstlerisch wertvolle Graffitis mit neuer Farbe auf. Das hat echt Spaß gemacht.“ SEN, der Name leitet sich übrigens von Senador ab, einer Ikone der US-Hip-Hop-Kultur, hat einen Ehrenkodex: Denkmäler, Statuen, Schaufenster, Kirchen und Privathäuser sind Tabu. Er sprüht nur auf Ruinen, Mauern, alte Fabriken und verlassene Häuser und in der Regel mit der Genehmigung der Besitzer. Ärger mit der Polizei hatte er unzählige Male. Die Summe der Strafen, die er zahlen musste, geht in die Tausende. Aber es hält ihn nicht davon ab, seine Kunst auszuleben und dort zu realisieren, wo sie hin passt. So hat er einen Schuppen am Fischereihafen mit Delphinen verschönert und die schäbige Mauer in der Nähe des Supermarkts Os Mosqueteiros mit dem Porträt einer Blondinen verziert, die in einen Apfel beißt. SEN hat längst die Grenzen Olhãos verlassen und seine Graffitis findet man selbst in Moncarapacho, Faro, Fuseta und Tavira. Wer weiß, vielleicht findet man demnächst sogar seine Bilder im Museum für Moderne Kunst in Lissabon, Bilbao oder New York. Ellen Hulda Johnson würde das bestimmt gefallen, sagt sie doch: ,,Ich bin für eine Kunst, die ihre Form direkt aus dem Leben bezieht“. Und das stimmt mit den Bildern von Dário Silva hundertprozentig überein.
Bernd Keiner
ESA 01/11