Auf den Spuren der Strandindianer
Nach dem Lockdown sehnen wir uns nach einem langen Strandspaziergang. Wir wollen feinen Sand unter den Füßen und eine frische Brise im Gesicht spüren, lediglich Dünen und Meer im Blickfeld haben. Deshalb führt unser Weg zum Meia Praia bei Lagos, wo wir weit mehr entdecken, als wir erwartet hatten
Startpunkt ist der Strandparkplatz unterhalb des Bahnhofes von Meia Praia. Der Strandausflug beginnt mit einem kleinen Abstecher zu einem militärischen Bau, dessen Glanz und Glorie längst Geschichte sind. Die westlich vom Parkplatz gelegene Festung Forte de São Roque, auch Forte da Meia Praia genannt, gilt seit 2015 als schützenswertes Denkmal, ist aber dennoch dem Verfall überlassen. Gebaut wurde das Fort in der zweiten Hälfte des 17. Jh., während der Herrschaft von D. Afonso VI., im Rahmen eines umfassenden Verteidigungsprozesses der Küste des Königreichs Algarve, der zum Bau zahlreicher Festungen entlang der Südküste führte. Im Laufe der Jahre wurde die Festung mehrmals renoviert und umgebaut – das was man heute sieht, entspricht nicht dem ursprünglichen Gebäude. Beim Erdbeben im Jahr 1755 erlitt das Fort schwere Schäden und einige Festungsmauern stürzten ein. Der anschließende Wiederaufbau war langwierig und das Fort erreichte nie wieder die Bedeutung, die man ihm ursprünglich zuschrieb. Erst 40 Jahre später, angesichts der drohenden französischen Invasion (1807), sollen die Bauarbeiten beendet worden sein. Doch laut Dokumenten aus den 1830er Jahren war die Festung damals erneut zerstört und die für die Renovierungsarbeiten notwendigen Beträge so hoch, dass sie nicht ausgeführt wurden. Gegen Ende des 19. Jh. übernahm die Zollbehörde von Faro das Gebäude und richtete dort eine Küstenwache ein. Doch auch diese schloss wenige Jahre später. Während des 20. Jh. sollen verschiedene Versuche, das Gebäude zu renovieren und rentabel zu machen, auf institutionelle Trägheit gestoßen sein. Darunter ein Vorschlag der Behörde für den Erhalt historischer Gebäude und Denkmäler DGEMN, das Fort in ein Hotel umzubauen. Jedoch steht es bis heute leer. Angesichts der vielen Graffiti an den Wänden – darunter sogar zwei oder drei recht interessante – und der leeren Bierflaschen, die überall herumliegen, wird es dennoch oft besucht.
Östlich vom Parkplatz liegt direkt hinter den Dünen der Bairro 25 de Abril, dessen Geschichte jünger, aber ebenfalls von Bau- und Umbauarbeiten erzählt. Für viele mögen die Häuser der kleinen Fischergemeinde ein Fleck in der Landschaft sein, aber die Geschichte ihres Ursprungs ist ein Zeichen dafür, dass vereinte Kräfte Großes schaffen können. In den 1950er Jahren kamen Dutzende von Fischern aus Monte Gordo in der Ostalgarve auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben nach Lagos. Am Meia Praia gab es reichlich Fische, aber keine Häuser. Die Fischer bauten provisorische Strohhütten auf den Dünen, was ihnen den Spitzname Índios da Meia Praia (Strandindianer) einbrachte. Als am 25. April 1974 die Nelkenrevolution stattfand, gab es nur noch eine der Hütten, alle anderen waren zu Baracken aus Zink und Holz umgebaut worden. Dann wollte die damalige Regierung den Barackensiedlungen im Land ein Ende setzen und rief den Serviço Ambulatório de Apoio Local, kurz Projecto SAAL ins Leben. Ein Projekt bei dem die Regierung die Grundstücke, die technische Unterstützung und einen Teil des Geldes zur Verfügung stellte und die Bevölkerung die Arbeitskraft liefern musste. Damit niemand zu kurz kam, gab es zwei Faustregeln: Die Häuser mussten gleichzeitig gebaut werden und alle musste mithelfen. Zunächst war es für den Architekt José Veloso, der das Projekt am Meia Praia übernahm, schwierig, die „Indianer“ zu überzeugen. Sie waren den Versprechungen der Regierung gegenüber misstrauisch und drohten sogar José Veloso zu steinigen. Der Architekt gab jedoch nicht auf und es gelang ihm, sie zu überzeugen. Die Fischergemeinde machte sich eifrig an die Arbeit. Wenn die Männer aufs Meer fuhren, übernahmen die Frauen die Bauarbeiten. Die Gemeinde setzte sich mit einem solchen Elan ein, dass ihre Geschichte den Filmregisseur António da Cunha Telles erreichte und dieser beschloss, den Wandel, der sich am Meia Praia vollzog zu dokumentieren. Sein Film veranlasste dann Zeca Afonso dazu, das Lied „Os índios da Meia Praia“ zu schreiben – neben „Grândola, Vila Morena“, dem Startsignal der Nelkenrevolution, eines seiner bekanntesten Kompositionen – und somit die Geschichte der kleinen Fischergemeinde zu verewigen.
Im Laufe der Jahre wurden einige Häuser renoviert und erweitert, sodass sie alle unterschiedlich aussehen, und es kamen kleine Gemüsegärten und Taubenhäuser hinzu. Die Straßen aber blieben bis heute ungeteert. Wie lange die Häuser, die mittlerweile von touristischen Anlagen umgeben und direkt neben einem Golfplatz liegen, noch stehen bleiben, ist ein Rätsel. Eventuell gelingt es den Strandindianern sogar, den Abriss ihrer Häuser zu verhindern. Dass sie widerstandsfähig sind, haben sie bereits bewiesen.
Vor uns erstreckt sich nun der insgesamt vier Kilometer lange Strand. Im Westen erkennen wir die steilen Klippen der Ponta da Piedade und im Osten unser heutiges Ziel: die Mole an der Ria de Alvor. Der Meia Praia unterscheidet sich sehr stark von den meisten Stränden der Westalgarve. Bizarre Felsformationen sind hier weit und breit nicht zu sehen, dafür Dünen, deren Vegetation zu dieser Jahreszeit blüht. Es sind kleine zierliche Blumen, die Blumenteppiche bilden und den Dünen bunte Farbkleckse verleihen. Der Sand ist fein, fast weiß und mit angespülten Muscheln übersät. Der Meia Praia ist zudem der einzige Strand im Barlavento, an dem conquilhas vorkommen. Doch hier werden sie condelipas genannt. Dieser Name geht auf Graf Wilhelm Friedrich Ernst zu Schaumburg-Lippe zurück, der in Portugal als Conde Lippe bekannt war. Er war ein bedeutender deutscher Militärtheoretiker und Heerführer, der während der Invasionen der französischen Truppen im Dienst der portugiesischen Armee stand. Als er später in Lagos das Regiment kommandierte, war er ein großer Anhänger der Dreiecksmuscheln und nahm sie oft in die Soldatenverpflegung auf. So kam es zur Bezeichnung condelipa.
Nach etwa zwei Kilometern erreichen wir die Mole an der Ria de Alvor. Hier münden die Flüsse Odiáxere und Alvor, die die Ria de Alvor bilden, in den Atlantik. Wir gehen bis zum kleinen Leuchtturm am Ende der Mole, spähen auf die Hochhäuser und den Strand von Alvor, auf die Gewässer der Ria, über die sich in der Ferne die Serra de Monchique erhebt, und westlich auf den Meia Praia, die Stadt Lagos und die Ponta da Piedade. Über dem endlosen Strand und dem weiten Ozean, ein fast wolkenfreier Himmel. Wir atmen tief ein, genießen die frische Brise und den Ausblick.
Zurück beschließen wir dem Weg zu folgen, der von der Mole am Ufer der Ria de Alvor entlangführt. Am nördlichen Ufer liegt Quinta da Rocha. Was diese zwischen den Flüssen von Odiáxere und Alvor liegende Halbinsel interessant macht, sind die verschiedenen Landschaften, die hier gesehen werden können und die zusammen einen einzigartigen Lebensraum für verschiedene Tierarten bieten: Agrar-Anbauland, Wattgebiet, Salzgärten, Fisch- und Muschelzuchten und das von den Flüssen und der Ria de Alvor gebildete aquatische Ökosystem. In jeder dieser Landschaften können wir charakteristische Flora und Fauna beobachten. Doch es ist das harmonische Zusammentreffen all dieser Eigenheiten, das der Ria de Alvor ihre Bedeutung und ihre Schönheit verleiht. Im Herbst werden die Ria und das umliegende Gebiet zudem von Zugvögeln aufgesucht, die dem kalten Winter im Norden entfliehen.
Nach etwa 400 Meter sehen wir eine Muschelzucht. Da Ebbe ist, liegen die Tische, auf denen die mit Muscheln gefüllten Säcke liegen, im Trockenen. Hier folgen wir einem schmalen Trampelpfad links durch die Dünen zurück zum Strand und schlendern am Wasser entlang zurück zum Parkplatz. Für einen Sprung ins Wasser ist es noch zu kalt. Vielleicht beim nächsten Mal.
Text: Anabela Gaspar in ESA 04/2021
Fotos: Anabela Gaspar; Miranda Opmeer