Sobald das Meer sich zurückzieht, reicht der schlammige Schlick in der Mündung des Sado etliche hunderte Meter weit in die Bucht. Um trotzdem in See stechen zu können, haben die Fischer vor sechzig Jahren einen einzigartigen Stelzenhafen errichtet
Ganz im Südwesten in der Bucht von Setúbal im Mündungsgebiet des Rio Sado, schwappt das Meer behäbig an das schlickreiche Ufer. Hier breitet sich das Naturreservat Reserva Natural do Estuário do Sado mit seiner Salzmarsch, Seegrasweiden und Dünenlandschaft aus, als wolle es die Bucht umarmen und vor den Launen des Meeres beschützen. Das südliche Marginale erstreckt sich am Fischerörtchen Carrasqueira vorbei nach Possanco und in einem engen Bogen weiter nordwestlich in das türkisblaue Meer bis zum mondänen Strandbad Tróia, am Ende des Sandarmes gelegen, der an einem Strandatoll abschließt. Von dort reicht der Blick entlang der Serra da Arrábida auf der Halbinsel von Setúbal bis zum Kap Espichel.
Ein Teil des Naturreservates liegt auf dem Landgut Herdade da Comporta im Landkreis Alcácer do Sal, das auch schon im vergangenen Jahrhundert Weinanbau und Landwirtschaft betrieben und je nach Saison ein große Anzahl Landarbeiter beschäftigt hat, die in der Nähe des Gutshofes eine Bleibe fanden. Präzise gesagt, im Schwemmgebiet des Sado mitten in der Marsch. Den Ort, der keinen Namen hatte, nannten die Tagelöhner und Feldknechte „Carrasqueira“, Land ohne Grund, denn die Marsch rund um den heutigen pittoresken Dorfkern, ist sumpfig morastig und gehört weder zum Meer, noch zum Land, sagen die Bewohner.
Die Gutsherren damals während der Salazar-Diktatur haben ihren Knechten erlaubt, im „Land ohne Grund“ Hütten zu errichten, allerdings ohne festes Baumaterial, sprich Ziegel oder Naturstein. So entstand nach und nach eine einzigartige Hüttenkolonie aus Schilfrohr mit Reetdächern, die cabanas de colmo. In diesen Hütten haben jeweils zwei Familien geschlafen und sich eine zweite Hütte als Küche geteilt. Die cabanas de colmo zählen heute zum nationalen Kulturerbe. Einige werden nach wie vor von Fischerfamilien bewohnt, andere haben einen neuen Zweck als ECO-Ferienhäuschen gefunden.
Nach der Nelkenrevolution 1974 und den damit verbundenen Unruhen auf ehemaligen Latifundien, fanden auch die Landarbeiter auf der Herdade da Comporta nur mehr wenig Arbeit – oder keine. Knechte und Mägde sattelten um und versuchten sich im Fischfang. Allerdings musste hierfür eine schlammige Hürde genommen werden.
Der Fluss Sado mit dem antiken Namen Sadão entspringt 230 Kilometer entfernt von Carrasqueira im Alentejo in der Serra da Vigia und fließt von Süden gen Norden in einem großen Bogen an Alcácer do Sal vorbei in die Bucht von Setúbal. Das Flussdelta Estuário do Sado trennt die Bucht und seine Ufer, und überschwemmt ein mehrere hundert Quadratkilometer großes Gebiet rund um die südlich gelegenere Mündung bis tief ins Landesinnere, und beschert Flora und Fauna ein einzigartiges Biotop, gespeist von Salzwasser und Süßwasser. Hier werden Reisfelder in großem Stil betrieben und früher Salinen. Der behäbige Sado erstreckt sich auf eine Fläche von 160 Quadratmeter ins Meer und sorgt mit seinen Prielen und Dünen für Lebensraum etlicher Schaltiere, Vögel und Fische. Am Nordufer liegt die Hafenstadt Setúbal mit Containerhafen und Werft. Am Südufer das Naturreservat mit den Fischerörtchen Carrasqueira und die Kleinstadt Comporta.
Die Tide in diesem Teil des Deltas ist deutlich sichtbar. Bei Ebbe herrscht niedriges Meer, Fischersleute sagen, das Meer zieht sich zurück. In Carrasqueira versteht man genau, woher dieser Ausspruch stammt. Wenn sich das Meer bei Ebbe zurückzieht, bedeckt Flussschlamm hunderte Meter weit die Marginalien.Wie soll da ein Fischer mit seinem Boot in See stechen können? Die Fischer erfanden das passende Boot lancha de madeira, das flach über das Wasser gleiten konnte, und den passenden Hafen, der ihnen wie eine Art Brücke dienen sollte, um die schlammige Hürde zu überwinden.
Vermutlich inspiriert von asiatischen Hafenanlagen in Flussmündungsgebieten, entstand in Carrasqueira ein in Portugal und in Europa einzigartiger Fischerhafen auf Stelzen. Strandgut, Bauholz, dünne Baumstämme und dickes Schilfrohr trieben die Fischer tief in den Schlamm. Ast neben Ast, verbunden und gehalten von Schnüren und Draht, bildeten das Grundgerüst, als Steg dienten den Fischern Latten, Äste und Bretter. Begonnen hat die Arbeit am Cais Palafítico da Carrasqueria in den Sechzigerjahren, fertig wird er wohl nie. Mehrere hundert Meter hinein in den Schlick läuft der Hauptsteg, von dem sich ein Labyrinth von Seitenstegen erstreckt, an denen die buntbemalten hölzernen Fischerkanus vertäut liegen. Ein hölzernes Kapillarnetz in den Schlick des Sado hineingestellt, das es den Fischern erlaubt, selbst bei Ebbe das Meer zu erreichen.
Ein Spaziergang über das zusammengezimmerte und genagelte Schilfrohr, Holzpaletten und krumme Aststecken, ist vor allem bei einlaufender Flut, eine echte Herausforderung. Der Steg oszilliert im Sog der Strömung. Als befände man sich an Bord eines vor Anker liegenden Bootes, schwankt der gesamte Hafen unter jedem Tritt. Übung macht den Meister, lachen die Fischer, schieben auf einem Handkarren aufgebahrt ihre Ausrüstung über den Steg bis zu ihrem Boot und laden alles ein, bevor sie selbst einsteigen und ablegen mit Kurs gen Arbeitsplatz Meer.
Ihre Boote erinnern an venezianische Gondeln, liegen flach im Wasser, der Bug ragt hoch, angetrieben früher mit Muskelkraft und Ruder und heute mit Außenbordmotor. Die Fischer von Carrasqueira haben sich auf Bodenfischen, Käfigfallen und die Kunst des Aalfangs spezialisiert. Ihre Ausrüstung besteht aus Käfigfallen, die mit Bojen markiert in der Mündung in gekennzeichneten Gebieten ausgesetzt werden dürfen und dem Tintenfischfang dienen. Für Seezunge, Rochen und Rotbarben, benutzen sie ein feinmaschiges Netz. Für den Aalfang arbeiten Frauen und Männer Hand in Hand. Ein sehr feinmaschiges Netz aus dünnem Nylon von Frauenhand geknüpft, in einen Bogen aus Holz gespannt, ist das Grundgerüst und heißt galricho. Enge Ärmel aus Nylonnetz mit Stoff ausgekleidet, dienen als Falle. Angelockt vom Köder schlängelt sich die wirbellose Beute durch den Ärmel und steckt in der Falle, weil die Öffnung sich nach dem durchschlängeln schließt. Je mehr Ärmel, je zahlreicher die Beute.
Den Stelzenhafen Cais Palafítico da Carrasqueira erreicht man vom Dorfzentrum geradeaus über einen Sandweg. Das Auto kann man gut gleich im Ort stehen lassen und die Gegend in beide Richtungen am Ufer entlang mehrere Kilometer weit erkunden. Die Flora im Naturreservat des Sado beglückt mit seltenen Blumengewächsen und endogenen Bodenpflanzen, mit wilden Orchideen und Strandlilien. Aber nichts ist so wildromantisch, wie der Blick über das Stelzenlabyrinth hinweg, über die silbrig glatte Oberfläche der Bucht bis nach Setúbal, wo im mittäglichen Sonnendunst ein Containerschiff beladen wird. Vielleicht schreit gerade ein Seeadler und stürzt vom Himmel auf einen Flusskrebs, während gegenüber ein Schiffshorn dröhnt und ein schwimmender Gigant vollbeladen ausläuft.
Tipp: Im Dorf Carrasqueira stehen versteckt noch ein halbes Dutzend Original Schilfhütten verteilt. Außerdem kann man in der lokalansässigen Gastronomie hervorragend speisen. Frittierte Tintenfischstreifen à Setúbalense mit Tomatenreis oder eine Portion legendären ensopado de enguia, Aal-Eintopf, lassen Feinschmeckerzungen jubeln.
Text und Fotos: Catrin George Ponciano in ESA 07/2020