Unglaublich, was sich alles in den letzten 30 Jahren ereignet hat. Wie sehr sich die Algarve in diesem Zeitraum verändert und entwickelt hat. Oft habe ich den Eindruck in einer anderen Welt aufgewachsen zu sein, dabei bin ich erst 42 Jahre alt
Mein dreijähriger Sohn streift mit dem Zeigefinger über den Bildschirm des Fernsehers. So will er, wie auf dem Bildschirm des Handys, sein Lieblingsprogramm wählen. Meine zwölfjährige Tochter ist verwundert, dass es früher nur zwei Sender statt 200 gab, wir nicht die Möglichkeit hatten, das Programm zu stoppen, um einen Snack zu holen, zurück- oder vorzuspulen sowie die Sendungen der letzten sieben Tage abzurufen. „Wie habt ihr damals eure Lieblingssendung verfolgen können?“, fragt sie dramatisch. „Wir saßen zur gegebenen Uhrzeit vor dem Fernseher“, antworte ich lakonisch. Sie stellt viele andere Fragen dieser Art über die ich lachen muss.
Aber die Welt in der ich aufgewachsen bin unterscheidet sich nicht nur wegen der Technik von der meiner Kinder. Dinge, die während meiner Kindheit schon für viele eine Selbstverständlichkeit waren, wie Leitungswasser und Strom, gab es im Hinterland der Algarve und selbst in vielen Dörfern und auch Städten an der Küste nicht. Ich bin zwar in Deutschland mit allen Annehmlichkeiten aufgewachsen, aber die Sommer verbrachte ich im Heimatdorf meiner Mutter, im Hinterland der Ostalgarve. Die Algarve war für mich kein Synonym für Strand und Meer, sondern für eine ausgetrocknete Hügellandschaft, alte in schwarz gekleidete Menschen, die nicht mit dem Auto, sondern mit dem Esel unterwegs waren und Kinder, die barfuß und halbnackt durch die Gegend rannten. Und ich liebte diese Welt! Genügend Freiheit, um den ganzen Tag draußen zu spielen, hatte ich auch in Deutschland, zumal ich auf einem Bauernhof aufgewachsen bin. Aber hier in Portugal war es doch um vieles anders. Es war als lebte ich in zwei Welten. Einiges ist mir bis heute stark in Erinnerung geblieben. Lächelnd denke ich an diese Zeiten zurück.
In Deutschland ließ meine Mutter das Wasser in die Badewanne laufen. In wenigen Minuten war sie voll. In Furnazinhas, zehn Kilometer nordwestlich von Odeleite, schleppten wir das Wasser mit Eimern vom Dorfbrunnen zum Haus, wärmten es auf und gossen es schließlich in eine Zinkbadewanne. Eine mühsame Aufgabe, für die wir mehrmals zum Brunnen laufen mussten und die viel Zeit in Anspruch nahm. Deshalb badete auch nicht nur einer von uns, sondern mindestens vier oder fünf im selben Wasser und nur einmal pro Woche. Zuerst meine Schwester und ich, dann meine beiden jüngere Onkel und meine Tante, die knapp zehn Jahre älter als wir beide waren. Schmutzig waren wir eigentlich nicht. Täglich schwammen wir im naheliegenden Fluss oder erfrischten uns in den Bewässerungstanks, die viele im Gemüse- und Obstgarten hatten und die wir zu Beginn des Sommers putzten und sogar blau anstrichen, sodass sie wie Schwimmbäder aussahen. Auch im gemeinschaftlichen Waschhaus, in dem meine Tante, die als Teenagerin die Stelle ihrer früh verstorbenen Mutter einnehmen musste, die Kleidung von allen per Hand wusch, plantschten wir im Wasser. Angesichts ihrer harten Arbeit fragte ich meine Mutter immer wieder, wieso sie ihr nicht eine Waschmaschine schenkte, und immer wieder erinnerte mich meine Mutter daran, dass es im Dorf keinen Strom gab. Das Thema Toilette werde ich hier nicht allzu sehr erläutern. Es genügt zu sagen, dass es keine gab. Auch Toilettenpapier war nicht immer vorhanden…
In Deutschland kam der Postbote und steckte die Briefe in den Kasten. Wie er hieß oder aussah weiß ich nicht. In Furnazinhas kam tio Silvestre – alle ältere Personen werden bis heute mit Onkel oder Tante angesprochen, egal ob man mit ihnen verwandt ist – auf seinem alten Zündapp-Moped mit einem großen Jutesack, der mit einer dicken Kette und einem Schloß versehen war, in den Tante-Emma-Laden von tia Ana und tio Sebastião, der leider im Februar dieses Jahres verstarb. Alle vom Dorf standen vor dem Laden, die Kinder spielten, die Frauen tratschten. Wir traten erst nach tio Silvestre ein. Dann überreichte er tia Ana den Sack, die ihn langsam öffnete und die Briefe herausnahm. Erwartungsvoll hörten wie sie die Namen der Empfänger lesen. Der Betroffene trat zur Theke vor und erhielt sein Schreiben. Insgesamt ein sehr feierlicher Anlass. Heute stehen graue Briefkästen am Dorfplatz. Keiner wartet mehr auf den Postboten.
Die Bewohner kamen auch zu anderen Anlässen zusammen, die in den Städten jeder für sich erledigte. Beispielsweise um Fisch zu kaufen. Dafür kam etwa einmal die Woche João Santana auf seinem Moped ins Dorf gefahren. Mit einer schmutzigen Schnur befestigt, transportierte er eine noch schmutzigere Holzkiste in der Sardinen und andere Fische lagen. Die zirka einstündige Fahrt auf der alten kurvenreichen EN 124 von Vila Real de Santo António nach Furnazinhas, mit mehreren Zwischenstopps, hatten sie natürlich nicht gut überstanden und sahen entsprechend unappetitlich aus. Dennoch liefen alle zum Dorfplatz, sobald er dreimal hupte, denn eine andere Möglichkeit an Fisch zu kommen, gab es nicht. Jeder, der zum Verkaufen ins Dorf kam, kündigte seine Ankunft durch Hupen an. Alleine am Ton erkannten wir, ob es der Fischverkäufer oder ein anderer war. João Serra hatte einen mobilen Tante-Emma-Laden, in dem man das kaufen konnte, was im kleinen Laden von tia Ana und tio Sebastião nicht vorhanden war. Heute ist es João Custódio, der wöchentlich die wenigen Dorfbewohner mit allen möglichen Sachen versorgt.
Brotaufstriche wie Nutella gab es im Dorf, in ganz Portugal, damals nicht. Aber jede Menge selbstgemachte Marmeladen und, was ich mit der Zeit zu schätzen lernte und heute sogar vermisse, Schmalz mit Zucker bestreut. Schnell vergaß ich deutsche Bratwürste und Schnitzel und schätzte wieder die kalte Brotsuppe mit Tomaten und Paprika, gaspacho. In Deutschland aß ich selten Brot, doch in Furnazinhas konnte ich mich daran nicht satt essen. Es schmeckte einfach anders, besser! Vielleicht lag es daran, dass ich den Teig selbst kneten, formen und in den Holzofen schieben durfte – natürlich mit der Hilfe meiner Tante! Etwa eine Stunde später waren die herrlich duftenden, knusprigen Brotlaibe gebacken.
Wir Kinder verbrachten den ganzen Tag in den umliegenden Feldern. Ich vermisste weder mein Spielzeug noch den Fernseher. Oft spielte ich inmitten der Sägespänen in der Schreinerei von António Bartolino, der ebenfalls vor Kurzem verstarb. Er hatte stets eine Engelsgeduld mit mir. Wenn das Essen auf dem Tisch stand, riefen meine Mutter oder Tante von der Dachterrasse lauthals unsere Namen. Wenn wir uns in Hörweite befanden, erschienen wir kurz darauf im Haus, wenn nicht, spätestens dann wenn wir Hunger hatten. Obwohl wir dafür nicht unbedingt nach Hause mussten, denn in jedem Haus wurde uns Essen angeboten oder in die Hand gedrückt.
Abends zogen glückliche und zufriedene Kinder, Teenager und junge Erwachsene zusammen im Mondschein bis ins nächste Dorf, das vier Kilometer entfernt liegt. Dies war die einzige Freizeitmöglichkeit, nachdem sie den ganzen Tag auf dem Land oder im Haushalt geholfen hatten. Die Jungs waren mit den Herden unterwegs, die Mädchen übernahmen die häuslichen Pflichten, beim Pflücken der Mandeln und Feigen halfen alle mit. Zwar gab es die venda von tio Sequeira im Dorf – auch heute noch – aber dort konnten sie sich nicht treffen, da es sich einerseits für Mädchen damals nicht gehörte ins Café zu gehen, andererseits weil sie sich dort auch nicht unbelauscht unterhalten konnten. Also zogen sie in der Finsternis – wie wir es ausdrückten – die Straße hoch (estrada acima) und nahmen die Jüngeren gerne mit, die es aufregend fanden, bei den Älteren dabei sein zu dürfen. Bis heute unternehmen wir diese abendlichen Ausflüge. Nun in Begleitung unserer eigenen Kinder, denen wir erzählen, wie es früher war.
Später, als tio Sequeira in seiner venda die erste Telefonverbindung im Dorf hatte, freuten sich meine Mutter sowie viele andere, die ausgewandert waren, riesig. Nun konnte sie die Sehnsucht durch ein Telefongespräch mit den Geschwistern etas mindern. Es waren aber weit mehr Menschen als nur zwei Gesprächspartner involviert. Meine Mutter rief an und bat tio Sequeira oder seine Frau Ana, meine Tante oder einen meiner Onkel zu holen, sie würde in fünf Minuten wieder anrufen. Wenn niemand anzutreffen war, teilten sie dies meiner Mutter mit und diese ließ wiederum ausrichten, dass sie am Abend zu vorgegebener Zeit noch einmal anrufen würde. Dann würde meine Tante zur venda kommen und warten oder man musste nochmals nach ihr suchen. Das Maria aus Deutschland anrufen würde sprach sich natürlich herum und so standen am Abend auch mehrere Leute neben meiner Tante am Telefon. Heute hat fast jeder einen Telefonanschluss. Handyempfang ist auch vorhanden. Einige haben Internet und vor wenigen Wochen wurden Glasfaserkabel verlegt. Im Waschhaus trifft sich auch niemand mehr.
Wegen der Wanderwege der Via Algarviana rund um das Dorf und auch wegen dem Korbflechter António Gomes Peres, der mit dem Projekt TASA zusammenarbeitet und dort Workshops anbietet, wird Furnazinhas immer bekannter. Aber in der Presse wird es als ein vom Aussterben bedrohtes Dorf beschrieben. Ich kann es kaum fassen, dass sie von dem Dorf sprechen, das vor knapp 40 Jahren eines mit den meisten Kindern und Jugendlichen der Umgebung war und in dem ich umgeben von liebenden Menschen so viele glückliche Sommerferien verbrachte.
Wenn ich heute in Furnazinhas zu Besuch bin und die Straße „runter“ bis zum Dorfplatz laufe, vermisse ich plötzlich das, was ich als Kind zu Beginn der Sommerferien hasste: Meine Tante ging stolz mit uns Hand in Hand die Straße entlang und alle begrüßten uns mit Küsschen oder zwickten uns in die Wangen. Nun laufe ich mit meinen Kindern Hand in Hand stolz die Straße entlang, treffe jedoch selten jemanden…
Text und Fotos: Anabela Gaspar in ESA 04/2019