Manche der vor über 500 Jahren zum Christfest eingeführten volkstümlichen liturgischen Rituale haben den Zeitenwandel bis heute überlebt – andere nicht
Sie kann sich noch genau daran erinnern, dass ihre Mutter mit ihr die Kirmes in Portimão -besucht und jedes Jahr wieder Roggensamen gekauft hat, erzählt meine ältere Nachbarin Zézinha mit leuchtenden Augen von der Vorweihnachtszeit in ihrer Kindheit. Frisch gebackenes filhós, Schmalzgebäck mit Zucker und Zimt bestreut, hat sie auf der feira gegessen und die Roggensamen am Martinstag am 11. November gewässert. Zwei Tage später legte Zézinha die Samen auf Untertassen aus. Nach etwa einer Woche begannen die Samen zu keimen und sie pflanzte die Keime ein.
Mit diesem an der Algarve üblichen alljährlichen searinhas-Brauch pflanzt sich der tiefe Glauben an die Überlieferung aus dem Alten Testament fort, dass der Messias kommt und mit ihm Gerechtigkeit, Liebe, Frieden, Wahrheit und Vergebung auf die Erde. Das Aussäen von Getreidesamen ist aber nur einer der volkstümlichen Weihnachtsbräuche entlang der Algarve, die sich überwiegend in ländlichen Gegenden weiter fortsetzen.
Am 8. Dezember ehrt man im katholischen Glauben die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria Nossa Senhora da Imaculada Conceição. In der Algarve singt man an diesem religiösen Hochfesttag speziell der Jungfrau Maria gewidmete Liedverse, die mehrstimmig interpretiert eine eindringliche melodiöse Spiritualität vermitteln. Mit diesem trance-artigen Versgesang befreit man gleichnishaft die Seele von Rachegefühlen, Neid und Argwohn. Das sogenannte Novenen-Singritual geschieht in der Kirche – oder zu Hause. Hierfür verabreden sich Angehörige und Nachbarn zur gemeinsamen Betstunde in zwei neuntägigen Andachts-Zyklen. Traditionell brennen während der Novenen zu Hause Lavendel-Duftkerzen und Rosmarinzweige als bildhafte Feueropfer. Das Heim wird zusätzlich mit Weihrauch parfümiert, um die Aura zu purifizieren und um sich innerlich auf die Ankunft des Heilands vorzubereiten.
An den vier Sonntagen vor Heiligabend hält Advent Einzug in die guten Stuben in der Algarve. Es werden Krippen gebastelt und aufgestellt, mit Kiefernzweigen, Moos, Korkrinde, Kiefernzapfen und Kerzen geschmückt. Im Zentrum liegt eine Jesus-kind-Figur in der Krippe. Die Menino-Jesus-Figur ist aus Wachs, Pappmaché oder Holz, und mit einem einfachen Gewand bekleidet, mit Lichtkranz und weißer Taube dekoriert. Für das Krippenspiel zu Hause konnte man früher sogar seine eigene Jesuskind-Figur in speziellen Werkstätten bestellen und anfertigen lassen. Bis vor wenigen Jahren boten in São Brás de Alportel sowie in anderen Orten im Hinterland von Faro und Tavira, noch eine handvoll Kunsthandwerkerinnen diese volkstümliche Sakral-Kunst an. Einige Prachtstücke dieser speziellen Kunstfertigkeit von Frauenhand stehen im Museu do Trajo in São Brás de Alportel und warten auf ihre Restaurierung. Im Museum für sakrale Kunst in der Sé de Faro findet man im Hohen Chor zwei Heiligen-Ikonen des Jesuskindes ausgestellt und in der angrenzenden Kapelle São Miguel zwei Ölgemälde aus dem 17. Jh. von der Anbetung der Heiligen Drei Könige sowie der Mutter Maria. Die Herstellung von Figuren für die heimische Weihnachtskrippe hat sich mittlerweile ohnehin zu einem gigantischen Industriezweig gemausert und die einstigen privat geführten Bastel-Werkstätten beinahe vollständig vom Markt verdrängt. Für vorweihnacht-liche Bastelstunden fehlt vielen sowieso die Zeit, und/oder das Wissen. Wem die Krippe vom Vorjahr nicht mehr gefällt, kauft neu. Gebastelt wird dennoch, zum Beispiel in Kirchengemeinden und Pfadfindergruppen. Ab dem Nikolaustag laden allerorts Rathäuser, einige Museen sowie Kirchen zum Krippenbesuch ein. Ein eigener Wettbewerb wird jedes Jahr wieder ausgeschrieben, auf der Webseite der Diözese Algarve findet man eine interaktive Rota dos Presépios mit Karte und Infos.
Aufgetischt zum traditionellen ceia (Heiligabendmahl) wird entlang der Küste seit jeher bacalhau mit Kohlherzen und Kartoffeln, dazu berbigão, Lagunenherzmuscheln, und in den Bergregionen Mais-Eintopf mit Schweinefleisch und Hausmacherwurst, bevor man kurz vor Mitternacht zur sogenannten Hahnen-Messe Missa do Galo aufbricht. Es steht geschrieben, dass in der Nacht, als das Jesuskind geboren wurde, ein Stern heller als alle anderen Sterne am nächtlichen Himmel leuchtete und den Heiligen-Drei-Königen den Weg nach Bethlehem wies. Als das Christkind das Licht der Welt erblickte, heißt es weiter, habe ein Hahn unentwegt gekräht. Die Hahnen-Messe am Heiligen Abend in der Algarve symbolisiert die Geburtsstunde des Christkindes. Früher brachten Bauern einen Gockel mit in die Kirche, der „hoffentlich“ auch krähte. Heutzutage kann man das Krähen als wiederauferstandenen Brauch in manchen Kirchen entlang der Algarve erleben, allerdings vom Tonband. Am Ende der Missa do Galo küssen die Gläubigen das Jesuskind in der Krippe und heißen es metaphorisch auf Erden willkommen. Anschließend geht man nach Hause und genießt extra für Weihnachten vorbereitete Süßkartoffel-Teigtäschchen. Es gibt jungen Wein, dazu gedämpfte Eicheln, geröstete Walnüsse und Feigen von der neuen Ernte zum Knabbern sowie Bolo Rei, Königskuchen mit kandierten Früchten, Mandeln und Rosinen dazu. Als Glückssymbol für das neue Jahr liegen Orangenfrüchte auf dem Gabentisch. Das traditionell in Schweineschmalz konservierte Brot vom letzten Heiligabend, in Anlehnung an das Abendmahl vom Vorjahr mit der Familie, bricht man mit seinen Lieben und legt neues zurück. Zum Abschluss betet man das Ave-Maria und das Vater-Unser und bittet um Segen für sich, die Familie und für die Menschheit allgemein.
Früher fand die Bescherung in der Algarve am Weihnachtstag, heute oftmals bereits am Heiligen Abend statt. Das Christkind bedachte die Kinder mit Geschenken, so wie einst die Heiligen-Drei-Könige das Jesuskind. Die Familie aß, was vom Heilig-abendmahl übrig geblieben war und zum Dessert gab es fatias douradas. In Milch und Ei gewendete, in Olivenöl ausgebackene Brotscheiben mit Zucker und Zimt bestreut. Roupa velha, alte Kleidung, nannte man dieses Mahl, als Tribut an den Glauben, dass Essensreste wegwerfen eine Sünde ist.
Die Suche nach dem volkstümlichen Heiligabend in der Algarve heute führt zu unterschiedlichen Erlebnissen. Mancherorts begegnet man den alten Bräuchen beinahe so, als stünde das Rad des Fortschritts zu Weihnachten still. In anderen Orten findet man auf jeden Fall in den Pfarrkirchen hübsche Weihnachtskrippen mit traditionellen Devotionalien. In den Supermärkten und Einkaufszentren hingegen fällt der Startschuss für den Weihnachtsrummel schon Ende Oktober, begleitet mit künstlichem Christbaumschmuck, Weihnachts-Popmusik und Naschwerk-Orgie. Zum Beten und Singen treffen sich Familien mit ihren Nachbarn, wenn überhaupt, hin und wieder in ländlichen Gegenden zu Hause zum Novenen-Brauch, in den Städten kaum. Den typischen Duft von Weihrauch an den Adventssonntagen und an Heiligabend erschnüffelt man, außer in den Kirchen, nirgends mehr.
Religiosität ist im Wandel begriffen. In der Gesellschaft von heute spielt Spiritualität eher bei der persönlichen Sinnsuche auf esoterischer Ebene eine Rolle, als in einem Gotteshaus oder im Schoß der Familie. Im Mittelpunkt des Weihnachtsfestes stehen jetzt Weihnachtseinkäufe weit vor searinhas säen und Krippenfiguren basteln. Die Jagd nach dem passenden Geschenk und die Suche nach dem passenden Menü endet erst, und atemlos, bei Geschäftsschluss am 24. Dezember. Der Gabentisch an Heiligabend biegt sich unter der Last der Geschenke und den aufgetischten kulinarischen Köstlichkeiten aus aller Welt. Was vom Essen übrig bleibt, landet zum größten Teil im Abfall.
Andererseits halten eine Menge Portugiesen nach wie vor an den über 500 Jahre alten Traditionen zur Vorbereitung der Heiligen Nacht fest. „Vielleicht einfach deswegen, weil sich jeder Mensch, völlig unabhängig von der eigenen Religionszugehörigkeit, nach Liebe, Gerechtigkeit, Vergebung, Wahrheit und Frieden sehnt. Vielleicht, weil wir trotz unserer vielschichtig unterschiedlichen Lebensauffassungen, lieben und geliebt werden möchten. Vielleicht ist Heiligabend gerade deswegen ein guter Tag, um sich darauf zu besinnen.
Feliz Natal e bem hajam − Gesegnete Weihnachten
Text & Fotos: Catrin George Ponciano in 12/2018