Die einstige sogenannte zweite Hauptstadt der Nation zählt seit 1986 zu den UNESCO Weltkulturerbe-Stätten und zeigt in ihrem historischen Stadtkern auf Schritt und Tritt Kunsthistorie in eigenwillig kostbarer Manier
Es geschah in einer Nacht ohne Mond, erzählt der Volksmund. Die maurischen Wachsoldaten fühlten sich in nächtlicher Schwärze in Sicherheit und schliefen den Schlaf der Ahnungslosen, als „die Hunde des Geraldo“ die prächtige Bastion Yeborath im Sturm eroberten. Seit Wochen bereits harrte der Abenteurer Geraldo Geraldes mit dem Beinamen O sem Pavor, der Furchtlose, im einstigen Zisterzienserkloster Mosteiro de S. Bento de Cástris, wenige Kilometer von der Festung entfernt aus, hoffend auf eine eben solch düstere Nacht und die einmalige Gelegenheit, in die von einem über fünfzehn Meter hohen Mauerwall mit etlichen Wachtürmen befestigte Burg unbemerkt einzudringen. Kanonen und Kugeln brauchte er für seinen raffinierten Plan nicht, der Furchtlose und seine Mannen erklommen den schützenden Wall mit langen Leitern und rückten lautlos über die Zinnen ins Herz der Bastion vor. Geraldo höchstpersönlich, heißt es, überwältigte die Turm-Wache mit den Worten, „Wenn dir dein Leben lieb ist, dann schrei so laut du kannst, es ist alles in Ordnung.“ Danach konnten er und seine Gefolgsmänner die schlafenden Sarazenen widerstandslos überrumpeln, entwaffnen und zum Aufgeben zwingen.
Der Hauptplatz Praça do Giraldo im Herzen von Évora trägt den Namen des furchtlosen Ritters und dient Eborense-Bürgern für die täglich obligatorische Kaffeepause, Verliebten als Treffpunkt für romantische Stelldicheins am barocken Brunnen vor der Pfarrkirche sowie Besuchern als Ziel am Tourismusbüro. Würdevoll bekränzt von historischen Kaufmannshäusern mit prächtigen Renaissance- und Klassizismus-Fassaden führen vom Giraldo Platz zahlreiche Gassen zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten, Kirchen und Parks. Folgt man dem pittoresken Arkadengang, stößt man auf eine Reihe erlesener Boutiquen sowie Geschäften mit lokalem Kunsthandwerk und regionalen Spezialitäten. Auf dem Weg Richtung Stadtmarkt und São Francisco Kirche, mit der größten Gebeinkapelle Portugals und dem Museum für weihnachtliche Krippen-Modelle aus aller Welt, flaniert man buchstäblich durch 500 Jahre Zeitgeschichte, zurück bis ins glorreiche goldene Zeitalter Portugals zum romantisch, maurisch geprägten Prinzessinnenpalast à la es war einmal, bewacht von stolzen Pfauen.
Wegen der geografisch verkehrsgünstigen Lage an der Grenze zwischen den zwei antiken außerrömischen Provinzen Hispanien und Lusitanien gelegen, spielte Évora über tausend Jahre vor der christlichen Rückeroberung durch Geraldo im September 1165 bereits eine herausragend bedeutende Rolle in der iberischen Geschichte. Kaiser Augustus erhob Évora zum freien Municipium Liberalitas Julia und ließ rund um den primitiven Siedlungskern eine „perfekte Stadt“ bauen, in der sich die gesamte urbane Struktur um den Herrscherpalast herum sammelt. Der Palast und die perfekte Stadt darum liegen längst im Nirwana der Zeitgeschichte unter dem Kopfsteinpflaster verschüttet. Übrig geblieben sind 14 korinthische Säulen auf einem mächtigen Sockel eines römischen Tempels sowie archäologische Spuren römischer Thermen im Keller des Rathauses.
Évora flirrt. An jeder Straßenecke atmet die altehrwürdige Stadt Nostalgie ein und aus, präsentiert ihr urbanes Antlitz in einer bestimmten Ordnung erschaffen, das ihr etwas Unikates, eigenwillig Preziöses verleiht und das die Eborense-Bürger liebevoll as coisas de Évora, die Dinge ihrer Stadt nennen.
Gegenüber dem Tempel befindet sich das städtische Museum Museu Municipal de Évora für Archäologie und Kunst, auf der anderen Seite steht das Gebäude, in dem das Inquisitionsgericht tagte sowie die Casa Vasco da Gama mit Fresken-Kunst aus der Entdecker-Epoche. Gleich an der Tempelruine liegt der ehemalige Palast der Herzöge von Cadaval. Das Meisterstück mittelalterlicher Baukunst vereint als architektonisch ästhetisches Puzzle sämtliche Baustile Portugals und beherbergt heutzutage ein Luxushotel. In der Kirche São João Evangelista neben dem Hotel, verbirgt sich eine szenisch gestaltete Fliesenbilder-Galerie aus dem Leben des São Lourenço sowie eine schaurig-schöne Reliquien-Krypta mit Skeletten der Loios-Mönche.
Hinter dem Loios-Palast erhebt sich die stattliche gotisch-romanische Kathedrale. Der Heilige Stuhl Santa Maria Sé de Évora mit dem 80 m langen Kirchenschiff, der neo-maurischen Galerie und dem Kreuzgang mit Skulpturen religiöser Ikonen, die dem flämischen Bildhauer Olivier de Gand zugeschrieben werden, entstanden unter der Ägide von König D. Afonso III. Der markante achteckige Turm, inspiriert vom Torre del Gallo in der Kathedrale im spanischen Salamanca, krönt das heilige Gebäude seither als weithin sichtbares Wahrzeichen der Stadt. Der Hochaltar in klassischer Barock-Manier stammt aus dem 18. Jh. und wurde im Auftrag von König D. João V unter der Schirmherrschaft des deutschstämmigen Hof-Architekten Johann-Friedrich Ludwig aus Schwäbisch Hall, mit italienischem und portugiesischem Marmor und mit Gemälden italienischer Meister, neu gestaltet.
Nach der erfolgreichen Rückeroberung durch Geraldo den Furchtlosen, waren zunächst die Ritter des Calatrava-Ordens aus Coimbra die neuen Herren in Évora, später die Ritter von Avis, noch später Angehörige der Companhia de Jesus. König D. Dinis sorgte zu Beginn des 14. Jh. in der Grafschaft für landwirtschaftlichen Aufschwung, speziell mit der Wiederbelebung der Weinkellerei, der Holzwirtschaft, Viehzucht und dem Getreideanbau, die dem Landkreis nach wie vor Wohlstand bescheren. Mit dem Einzug von König D. Manuel I in Évora, Anfang 1500, erreichte das höfische Bestreben in Évora mit dem Errichten eines administrativen Außenpostens der königlichen Abgeordnetenkammer ihren Höhepunkt. Damit erhielt die Stadt einen souveränen Sonderstatus als sogenannte zweite Hauptstadt, wo der König und sein Hofstaat alternativ walten konnten. Die kurz danach erfolgte Gründung der ersten, von Jesuiten geführten Bildungseinrichtung des Landes, dem Jesuitenkolleg Espírito Santo, sorgte zusätzlich für Ansehen. Fern von Lissabon und isoliert in einer mächtigen Bastion, wurden in dem früheren Kolleg und heutigen Universität von Évora im 16. und 17. Jh. Prinzen und Söhne von Herzögen von Kindesbeinen an, im Sinne der geistigen Lehre der Jesuiten, auf ihre Lebensaufgabe vorbereitet und gedrillt. Der Kindkönig D. Sebastião zum Beispiel, Zögling des königlichen Kardinals Cardeal Rei D. Henrique, Sohn von Manuel I und erster Bischof von Évora, wuchs behütet im Kloster Espírito Santo auf und wurde hier auf das von Rom als glorreich proklamierte Projekt, das heutige Marokko für das Königreich Portugal zu erobern, vorbereitet. Ein Projekt mit fatalem Ausgang. Die Niederlage 1576 in der Schlacht von Al-Quîbir war vollkommen, der König tot und die Souveränität Portugals verloren.
Während der anschließenden iberischen Doppelunion keimte 60 Jahre später in Évora als erstes bewaffneter Widerstand gegen die spanischen Besetzer auf. Separatisten organisierten Anschläge auf spanische Militärunterkünfte und sorgten damit für jede Menge patriotische Nachahmer im ganzen Land. Mit König D. João IV an der Spitze riefen die Untergrundkämpfer von Évora im August 1637 zum Aufstand, Insurreição de Manuelinho, gegen die spanische Herrschaft auf. Die Schäden durch den in Évora entfachten, über 30 Jahre lang andauernden Krieg zur Wiedererlangung der nationalen Souveränität und Unabhängigkeit Portugals, haben auch im Herzen der Stadt desaströse Spuren hinterlassen. Etliche Gebäude wurden zerstört, aber sofern möglich, im Laufe des folgenden Jahrhunderts in Anlehnung an ihre historische Bedeutung, rekonstruiert. Damit gelang es, das unnachahmliche Flair Évoras wiederzubeleben und gleichzeitig zu konservieren. Aufgrund dieser, die Kultur wiederbelebenden Städtebau-Strukturmaßnahmen, gilt der historische Stadtkern von Évora auf materieller, als auch auf immaterieller Ebene, als Paradigma für das goldene Zeitalter Portugals und wurde deswegen im Jahre 1986 zur UNESCO Weltkulturerbe-Stätte erklärt. Die mit der Erhebung verbundenen finanziellen Zuschüsse haben die Stadtväter optimal genutzt. Die preziöse Kulturstätte blüht wie eh und je und ist auf jeden Fall einen Besuch wert.
Text und Fotos: Catrin George Ponciano in ESA 07/2018