Von der Sandbank bis zum Markt
Muschelsammler sind Einzelgänger. Sie kennen keine Vierzigstundenwoche, keine Stechuhr und keine Pause. Dafür kennen sie die Sprache der Muscheln, die ergiebigsten Sammelgründe und die Gezeitentabelle
Männer, die Muscheln, auf Portugiesisch Bivalves, für den Verzehr suchen, sammeln und verkaufen, heißen Mariscadores. Ihr Arbeitsplatz liegt in Marschlandschaften, an Flussmündungen, am Ufer weitverzweigter Priele sowie auf den Sandbänken in Lagunen. Muschelsammler sind Einzelgänger und arbeiten allein. Sie besitzen eine Lizenz, ausgestellt von der Generaldirektion für Naturressourcen, Sicherheit und Seeverkehrsdienste (Direcção Geral de Recursos Naturais, Segurança e Serviços Marítimos; DGRM), die sie legitimiert, die gesammelten Muscheln zu verkaufen und dazu verpflichtet, die von der Behörde vorgeschriebenen Hygiene-auflagen für die kommerzielle Verwendung von frischen Meeresfrüchten zu erfüllen. Wer keine Lizenz besitzt, kann trotzdem Muscheln sammeln, allerdings ausschließlich für den privaten Gebrauch.
Die meisten professionell arbeitenden Mariscadores spezialisieren sich im Laufe der Jahre ihrer Tätigkeit auf eine Muschelsorte in einem von der DGRM konzessionierten Gebiet. Dort stecken sie nach Zuteilung und Absprache mit benachbarten Muschelsammlern großflächig Gelände ab, rammen Holzlatten in den Sand und markieren auf diese Weise ihr Territorium. Diese konzessionierten Muschelsammelflächen heißen Viveiros und werden von anderen Mariscadores grundsätzlich respektiert, obwohl es hin und wieder vorkommt, das Schwarzsammler nachts plündern gehen und die Beute am Tag darauf auf der Straße und direkt aus dem Eimer feilbieten.
Muscheln klauben ist Handarbeit, die eine solide körperliche Kondition voraussetzt. Eimer, Köcher, Muschelhacke, auf Portugiesisch Sachola, und ein Taschenmesser gehören zur Grundausrüstung. Je nach Sorte und Sammelmethode kommen weitere Hilfsmittel, zum Beispiel Netz oder Metallstab, dazu. Sobald der Tidenhub von Flut zur Ebbe wechselt, geht es los zum Arbeitsplatz Meer. Der Tidenhub verschiebt sich täglich um eine Stunde, somit beginnt und endet die Arbeit der Muschelsammler nie zur gleichen Uhrzeit. An manchen Tagen geht der Muschelsucher zwei Mal los, im Morgengrauen und am späten Nachmittag. An anderen Tagen bloß einmal. An kalten Tagen im Herbst und Winter, bei Regen und während der Schonzeit für Muscheln gar nicht.
Breitbeinig stehend graben die Muschelsammler in fortwährend gebückter Haltung im Sand nach Bivalves. Pausen kennen sie keine, höchstens, um ihre Position einige Schritte nach links oder nach rechts zu verlagern. Ihre Füße stecken in Gummistiefeln. Im Sommer tragen sie kurze Hosen, im Winter Stiefel und Latzhose aus Gummi als Ganzkörperanzug. Stundenlang gebückt buddeln sie im Sand, im Priel oder im Marschschlamm, eine Hand führt die Muschelhacke, die andere Hand klaubt Muschel für Muschel auf. Muschelsammler wissen, wo sie ihr Werkzeug ansetzen und wie tief sie graben.
„Amêijoas reden viel, wenn das Wetter wechselt“, sagt Senhor Luís Miguel über die Venusmuschel. Sein Blick schweift gen Horizont, wo zwischen dem Blau-in-Blau-Gemälde von Ozean und Horizont ein grauer Streifen feine Schlieren zieht. „Heute reden sie viel, das bedeutet, heute Nacht kriegen wir Wetter.“
Wetter kriegen bedeutet Sturm auf See. Das Meer ist unruhig, die Brandung schwappt kräftiger gegen den Strand, die Flut drängt in die Lagune, Venusmuscheln bewegen sich mehr als sonst, ihre Schalen knirschen, sie sprechen. Zwar hören Mariscadores die Venusmuscheln keineswegs reden, aber sie verstehen ihre Sprache aufgrund ihrer vielen Jahre Erfahrung mit Schalentieren. Muscheln bewegen sich grundsätzlich im Sand, sie atmen und hinterlassen sichtbare Luftlöcher an der sandig glatten Oberfläche. Dank ihrer Größe und Anordnung kann der Muschelsammler im Sand lesen und weiß, wo sich welche Muschelsorte verbirgt. „Im Winter bleiben Amêijoas stumm“, sagt Senhor Luís Miguel. „Schlecht für mich, dann finde ich keine und bin arbeitslos“, fügt er hinzu.
Wer auf Venusmuscheln spezialisiert ist, braucht Geduld und ein geschultes Auge. Zwei Luftlöcher ungefähr zwei Zentimeter voneinander entfernt mit je drei Millimeter Durchmesser verraten dem Muschelsucher ihre einsiedlerische Anwesenheit, denn die schmackhafte Venusmuschel liegt einzeln vergraben im Sand. Mithilfe der Muschelhacke gräbt der Mariscador eine nach der anderen aus und hinterlässt eine lange Spur kleiner Krater auf der Sandbank. Einzelne Luftlöcher mit einem Durchmesser von etwa fünf Millimetern im Sand deuten auf Stabmuscheln hin. Diese stecken ungefähr zwanzig Zentimeter tief vergraben senkrecht im Sand. Der Muschelsammler führt einen dünnen, runden Metallstab in das Loch, das Muschelfleisch zieht sich im Reflex zwischen die Schalen zurück und klemmt den Stab dazwischen mit ein. Der Muschelsammler zieht den Stab aus dem Loch hervor, die Stabmuschel hält sich am unteren Ende fest.
Herzmuscheln liegen knapp unter der Sandoberfläche eingegraben. Ihr ständiges Öffnen und Schließen der Schalen erzeugt viele kleine Luftlöcher, was aussieht, als wäre der Sand durchsiebt. Sägezähnchen wandern von Lagune zu Lagune mit den Gezeiten mit, während die anderen Muschelsorten dort im Sand bleiben, wo sie sich einmal eingebuddelt und fortgepflanzt haben. Miesmuscheln docken in Kolonien an, wo es schattig und feucht ist und das Wasser leicht modrig riecht. Man findet sie zuhauf an Holzpfählen, Netzen und Felsen. Das macht die Ernte von Miesmuscheln um ein Vielfaches einfacher, als das Suchen und Sammeln von Muscheln im Sand.
Nach der Ernte sind Mariscadores gesetzlich dazu verpflichtet, ihre Tagesausbeute in ausgewählten Sammelstellen abzuliefern, zum Beispiel bei einem lokalen Meeresfrüchte-Fachgeschäft. Der Großhändler wiegt die Muscheln und füllt einen von der DGRM einheitlich vorgedruckten Lieferschein aus, auf dem die Muschelsorte und Menge, der Name und die Lizenznummer des Muschelsuchers, seine Ausweisnummer sowie die Kategorie der Herkunft vermerkt sind. Muscheln der Kategorie A stammen aus dem Meer, Kategorie B aus einer Lagune, Kategorie C aus dem Marschland. Der Großhändler transportiert die Gesamtmenge der Tagesausbeute der lokalen Muschelsammler nach Olhão in eine von der DGRM anerkannte Reinigungsanlage (Centro de Depuração). Dort werden die Muscheln in einem für Meeresfrüchte und Schalentiere ausgeklügelten Reinigungsverfahren mittels Ozon oder UV-Licht in Becken mit sterilisiertem Meerwasser mehrere Stunden lang purifiziert, danach in Netze zu je einem Kilogramm Gewicht verpackt und mit Herkunftsnachweis und Identifikation des Muschelsammlers etikettiert. Anschließend treten die Muschelpäckchen ihren Weg in den Handel an: Auf den Fischmarkt, in Meeresfrüchte-Fachgeschäfte, genannt Marisqueiras, und in den Supermarkt.
Der Herkunftsnachweis für die Muscheln muss im Netz für den Kunden gut sichtbar sein und bedeutet ein Gütesiegel für Muscheln von der Algarveküste. Jede Muschel ist garantiert frisch, purifiziert und quicklebendig. Dann macht Muschelessen Spaß.
Infos:
Der Großteil der Muscheln für den
Handel stammen aus dem Naturpark Ria Formosa in der östlichen Algarve, aus Olhão, Fuzeta und Cacela Velha, aus Vila Real de Santo António und Castro Marim oder aus der Lagunenlandschaft der Ria de Alvor in der westlichen Algarve zwischen Alvor und Lagos.
In den Handel gelangen überwiegend folgende Sorten:
Amêijoa – Venusmuschel oder Teppichmuschel
Berbigão – Herzmuschel
Conquilha – Sägezähnchen, Dreiecksmuschel od. Stumpfmuschel
Lingueirão – Stabmuschel
Mexilhão – Miesmuschel
Ostra – Auster
So bereiten Mariscadores Venusmuscheln zu:
In Olhão hat das gemeinsame Amêijoas-Essen eine lange Tradition. Zuerst ordnen die Mariscadores die Venusmuscheln mit dem Fuß aufrecht in mehreren Kreisen nebeneinander auf einem Mühlstein oder auf eine Steinplatte an, begrenzen die Muscheln mit kantigen Steinen, damit sie nicht umfallen können. Dann wird trockenes Reisig über den Muscheln verteilt und angezündet. Durch die Hitze der Flamme öffnen sich die Muscheln und garen im Rauch.
Zu Hause kann man diese Methode auf dem Grillrost über Holzkohle nachahmen. Ansonsten brauchen Venusmuscheln in der Pfanne mit Deckel mit einem Schuss Olivenöl, Knoblauch und zum Schluss mit Zitronensaft erfrischt, bloß wenige Minuten Hitzezufuhr, bis sie sich schäumend öffnen und ihren Muschelkern freigeben.
Text: Catrin George
ESA 08/16