1933 / 1974 – 41 Jahre Sprechsperre in Portugal
Wer nicht auf der Liste der Verbannten Worte der Zensurkommission landen wollte, war gezwungen sich einer bestimmten „Sprache“ zu bedienen und neue Wege zu finden, um Botschaften mittels Worte zu vermitteln. Ein Verbalroulette – jeden Tag wieder
Die Regierungspresse der Salazar-Regierung bediente sich einer „zweiten“ Sprache, die von der Zensur sozusagen ausgenommen war. Die Oppositionspresse hingegen, verfügte ebenfalls über eine „zweite“ Sprache, die ihrerseits den Anforderungen der Zensurvollstrecker entsprach. Während die Regierungspresse von „Übersee“ statt Kolonie, von „Holzhäusern“ statt Baracken und von „Vorprüfer“ statt von Zensur sprach und Wortumschreibungen zu Propagandazwecken benutzte, bemühte sich die Oppositionspresse vor allem darum, Wortschöpfungen zu finden, die verbotene Begriffe ersetzten und Inhalte der Zensur zum Trotz zu transmittieren. „Frühling“ für Revolution, „Blutsauger“ für Denunziant, „Konflikt zwischen sozialen Schichten“ für Klassenkampf, „Morgenröte“ für den aufkommenden Sozialismus. Ein täglich wiederkehrendes Verbalroulette. „Jedes Schriftstück, das 1933 nach Decreto nr. 22 469/33 die persönliche Sicherheit und moralische Integrität sowie die soziale Struktur der portugiesischen Bürger in Frage stellt oder gefährdet, ist nicht zur Veröffentlichung geeignet.“ Ein herber Rückschritt für Portugal und seine Wortwerker. Das Verfassungsgericht hatte 1911 bei der Konstituierung der Ersten Portugiesischen Republik ein Gesetz pro freier Meinungsäußerung verabschiedet und 1922 nochmals bestätigt. Durch den oben genannten Zusatz allerdings, kippte 1933 das Gesetz. In Deutschland gab es 1933 ebenfalls Zensur und eine „schwarze Liste“: Die sogenannte „Anordnung über schädliches und unerwünschtes Schrifttum“ unterlag den Obliegenheiten der Reichsschrifttumskammer. Verbannte Worte. Doktrin. Sprechsperre. Heute, im dritten Jahrtausend, denken Lesende, wäre Pressefreiheit eine Selbstverständlichkeit, doch dem ist nicht überall so. Selbst in demokratisch geführten Staaten in Europa und Nordamerika sieht es, laut Reporter ohne Grenzen in ihrer Studie 2014 https://www.reporter-ohne-grenzen.de/. de/ranglisten/rangliste-2014/), längst nicht so frei aus, wie Lesende vermuten möchten. Das Gesetz zur internationalen Pressefreiheit wurde erstmalig 1950 im Europarat neu formuliert und festgeschrieben. Da war der Europarat gerade erst ein Jahr alt. „Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.“ In Portugal fand dieses Gesetz erst nach der Nelkenrevolution erneut Gültigkeit. Zwischen 1933 und 1974 lauerten die „Vorprüfer“ überall, um Presseberichte und Bücher zu sichten und gegebenenfalls zu verbieten. Die Liste der Verbannten Worte wuchs stetig. “Os Livros proíbidos dos anos 1933/1974“ von José Brandão zählt etwa tausend verbotene Titel und Namen. Zwischen den Namen national Verbotener reihen sich zusätzlich eine Menge bekannter Namen und Buchtitel aus der internationalen Literaturlandschaft. Karl Marx und Friedrich Engels, vor allem im Doppelpack gemeinsam verfasster Werke Stalin, Castro, Mao Tsé-Tung. Neben Verfasser und Herausgeber politischer Lektüre, standen Biographien mutiger Revolutionsführer, deren Lebenswerk dem Kampf für Freiheit und Gleichheit gewidmet war, auf der Liste. Martin Luther-King oder Ché Guevara gehörten dazu. Außerdem umfasste die Zensur noch etliche Titel mit Themen weiterer Genre: Philosophie, Erotik, sexuelle Aufklärung, Evolution, alternative Lebensmodelle, Religion und Kirche, sogar Trivialliteratur. Verboten! Friedrich Nietzsche, Gustave Flaubert, Harold Robbins, Henry Miller, Jean-Paul Sartre, Marquis de Sade. Verboten! Theaterstücke, die sich mit dem Auseinanderklaffen zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse oder mit sozialen Hierarchiestrukturen innerhalb politischer Systeme kritisch, experimentell, womöglich satirisch auseinander setzten, fanden in Portugal keine Bühne. Der Deutsch-Schwedische Schriftsteller und Experimentalfilmemacher Peter Weiss avancierte 1967 in die Top-Ten der verbotenen Liste wegen seiner Bücher und seines Musicals „Der Gesang des Lusitanischen Popanz“. Einer Persiflage auf die portugiesische Kolonialherrschaft. Solche und andere Kunstformen, die direkte Kritik an Salazar und seinem Estado Novo zum Ausdruck brachten oder symbolisch in andere gesellschaftspolitische Prozesse innerhalb Europas eingebettet, literarisch aufbereitet allegorisierten, galten als staatsfeindlich. Nationale Urheber derartiger Inhalte wurden als antifaschistische Oppositionelle angeprangert. Die Konsequenz war ihnen bewusst. Haftstrafen, Verhör, Folter. Im schlimmsten Fall, Haft im Campo do Tarrafal, das den morbiden Beinamen Campo da morte lenta (Lager des langsamen Todes) trug und auf der Kapverdischen Insel Santiago nach dem Vorbild deutscher Konzentrationslager errichtet und geführt wurde. Der faschistischen Regierung war jedes Mittel recht, um zu verhindern, dass das portugiesische Volk an der historischen und wirtschaftlichen sowie mentalen Entwicklung in Europa oder am allgemeinen globalen Zeitgeschehen teilhaben konnte. Salazar musste das Land vor jeglichen, egal wie gefärbten politischen Einflüssen von links oder rechts, ob Kommunismus, Leninismus oder Sozialismus, rigoros abschotten, damit sein Estado Novo überhaupt so lange funktionieren konnte. Doch trotz größtmöglicher Kontrollmechanismen mittels PIDE und deren Mittelsmänner, gelang es auch ihm nicht dem Willen zu Widerstand auf Dauer entgegen zu wirken. Vor allem aber gelang es ihm nicht des Volkes Hoffnung und Sehnsucht zu berauben. Hoffnung und Sehnsucht. Zwei ideale Zutaten für revolutionäre Visionen. Vor allem dann, wenn Menschen sich nicht länger als Individuum, sondern als Komplex betrachten, können sie ungeahnte Kräfte mobilisieren. Am 25. April 1974 hat sich das portugiesische Volk mobilisiert. Mit einem Lied auf den Lippen. Das ebenfalls von der Zensur verbotene Lied Grândola Vila Morena von Zeca Afonso avancierte zur Freiheitshymne eines ganzen Volkes. Denn singen konnte schließlich jeder. Lesen durfte das Volk ja nicht. Vierzig Prozent der Population hatte gar nicht erst lesen lernen dürfen. Nach der Revolution fanden die Verbannten Worte Buch für Buch zurück in die Bücherregale und Bibliotheken, die Menschen allmählich zur Sprache ihrer Herzen und die Kinder den Weg in die Schule. Am 25. April diesen Jahres sind vierzig Jahre vergangen seit der faschistische Staat gestürzt und die Zensur abgeschafft ist. 41 Jahre lang haben Zensur und PIDE jeglichen Ansatz von Kreativität, individueller Ausdrucksform und freien Geist domestiziert. Die Angst vor Repressalien bei offenem Meinungsaustausch oder Stellungnahme schwelt sogar heute noch, vor allen bei der älteren Generation. Ein fatales Zeugnis dafür, wie lange es dauern kann bis Angst vergessen ist. Und ein starkes Zeugnis dafür, welche Macht das geschriebene Wort ausübt. Es lässt sich weder verbieten noch verbannen und wird auch in Zukunft seinen Weg in die Herzen der Menschen finden. Gelesen – oder erzählt.
Catrin George
ESA 04/14