Der furchtlose Kapitän
Er ging als wagemutigste Figur der Nelkenrevolution in Portugals Geschichte ein; ihm wird eine überlegene Intelligenz, ungewöhnlicher Mut sowie eine außergewöhnliche Würde und Loyalität zugesprochen: Fernando José Salgueiro Maia soll der Beste unter den Besten der aufständischen Kräfte der Revolution gewesen sein, die den Portugiesen den Traum der Freiheit erfüllten
Lissabon, 24. April 1974, kurz vor 23 Uhr. Im portugiesischen Rundfunk Rádio Renascença spielt das Liebeslied „E depois do adeus“ (Nach dem Abschied) von Paulo de Carvalho. Dies ist das erste verabredete Signal an die Militärs der Bewegung der Streitkräfte (MFA) zum bewaffneten Aufstand gegen die 48 Jahre währende Diktatur von António de Oliveira Salazar. Um 00.20 Uhr am 25.4. liest der Sprecher des Rundfunks die erste Strophe des von der Diktatur verbotenen Liedes „Grândola, vila morena“. Danach erklingt das Lied selbst, gesungen von dem antifaschistischen Protestsänger Zeca Afonso. Diese Verse sind für alle militärischen Einheiten, die sich zum MFA bekannt haben, das Signal, dass der Aufstand beginnt. Etwa 85 Km nördlich von Lissabon, in Santarém, wendet sich Fernando José Salgueiro Maia in der Kavallerieschule an seine Truppe: „Meine Herren, wie Sie alle wissen, gibt es verschiedene Formen des Staates. Sozia-listische Staaten, kapitalistische Staaten und den unseren, mit dem man keinen mehr Staat machen kann. Also lade ich Sie an diesem feierlichen Abend ein, mit mir nach Lissabon zu kommen, um diesen Status zu beenden. Wer mit mir ist, der reihe sich ein!“ Seine Worte gehen in Portugals Annalen ein. Alle 240 Männer, die sie hören, folgen Salgueiro Maia nach Lissabon, fest entschlossen, der Diktatur ein Ende zu setzen.
Am frühen Morgen besetzen Salgueiro Maia und seine Truppen den Terreiro do Paço in der Hauptstadt, den Platz, an dem sich die wichtigsten Ministerien befinden. „Charlie Oito zu Tiger: wir haben Toledo besetzt“, informiert er kurz nach sechs Uhr morgens Otelo Saraiva de Carvalho, einen der Strategen des Aufstandes, der in der Kommando-stelle des MFA in Pontinha in der Nähe des Lissabonner Flughafens alle Operationen der aufständischen Kräfte via Rundfunk koordiniert. Von diesem Moment an spielt der junge Kapitän Salgueiro Maia eine entscheidende Rolle in der Nelkenrevolution. Natürlich besetzen andere MFA-Truppen im ganzen Land strategische Punkte, doch es ist an jenem Ort um und auf dem Terreiro do Paço, wo sich die wichtigsten Ereignisse abspielen. Selbst Otelo Saraiva de Carvalho sagt, dass Salgueiro Maia und seine Männer diejenigen sind, die am 25. April den gefährlichsten Situationen ausgesetzt sind.
Die Regierung schickt Truppen aus, doch Salgueiro Maia gelingt es, diese Soldaten für den Aufstand zu gewinnen. So beispielsweise die des Brigadegenerals Junqueira dos Reis, der sich in der nahe gelegenen Rua do Arsenal weigert, mit Salgueiro Maia zu sprechen und seinen Männern befiehlt, auf den Kapitän zu schießen. Salgueiro Maia steht unbewaffnet vor zwei Panzern und mehreren Maschinengewehren. Das Schlimmste wird befürchtet. Doch einer nach dem anderen weigern sich die Männer, dem Befehl zu folgen, gehen hinüber zu den aufständischen Streitkräften und hinterlassen einen wild um sich schreienden und gestikulierenden Junqueira dos Reis.
Gegen 12 Uhr wird der Kapitän darüber informiert, dass Marcelo Caetano, der nach der Erkrankung von António de Oliveira Salazar im Jahr 1968 zum Regierungschef ernannt wurde, und zwei seiner Minister sich in der nahegelegenen Carmo-Kaserne, dem Hauptquartier der GNR, verbarrikadiert haben. Salgueiro Maia lässt einige Männer auf dem Terreiro do Paço und marschiert weiter zum Largo do Carmo.
Mittlerweile strömt die Bevölkerung euphorisch auf die Straßen. Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, Alte und Junge, Schlipsträger und Hippies, bejubeln die MFA-Truppen und feiern die lang ersehnte Befreiung von der Diktatur, deren Geheimpolizei PIDE politische Gegner inhaftierte, folterte und ermordete. Auf dem Rossio werden die ersten roten Nelken in die Gewehrläufe der Soldaten gesteckt: Eine Waffe wird in ein Symbol des Friedens verwandelt und die Nelken werden zum Symbol der Revolution. Maia sagt dazu später: „Die Unterstützung der Bevölkerung verwandelte den Marsch bis zum Largo do Carmo in etwas Außergewöhnliches. Nie zuvor hatte ich das Volk so gesehen. Im Viertel sah man alles, von alten Damen, die aus ihren Fenstern jubelten und den aufständischen Soldaten Essen brachten, bis zu Männern, die lautstark die Nationalhymne sangen und dabei fast die Stimme verloren. Die Atmosphäre war so schön, dass es kaum noch ein anderes Ereignis in unserem Leben geben kann, das mit diesem vergleichbar ist.“
Der kleine Platz am Hang zwischen dem Chiado- und dem Bairro Alto-Viertel ist überfüllt mit Menschen. Sie sitzen sogar in den Bäumen. Salgueiro Maia ruft die Bevölkerung mehrmals dazu auf, zum Terreiro do Paço zu gehen und dort die frisch errungene Freiheit zu feiern. Sein Ziel ist es, sie vor eventuellen Konfrontationen zu schützen. Doch niemand will den Platz verlassen. Alle wollen dieses historische Ereignis aus erster Hand erleben.
Nach mehreren Stunden Verhandlungen teilt Salgueiro Maia dem Regierungschef um 16.30 Uhr mit, dass die Kapitulationsfrist abgelaufen ist. Marcelo Caetano ist bereit aufzugeben, fordert jedoch, dass ein Offizier höheren Rangs des MFA anwesend sein soll. Salgueiro Maia lässt General António de Spínola rufen. Nachdem dieser um 17.45 Uhr die Carmo-Kaserne betritt, wird die weiße Fahne gehisst. Doch erst um 19.30 Uhr verlässt Marcelo Caetano unter „Mörder“-Rufen der Bevölkerung das Gebäude in einem Panzer mit Salgueiro Maia, der ihn zur Kommandostelle des MFA und dann zum Lissabonner Flughafen bringt, von dem aus er nach Madeira und von dort weiter nach Brasilien ins Exil fliegt.
Vom Abend des 24. April bis zum späten Nachmittag des 25. April wird Salgueiro Maia mit mehreren gefährlichen Situationen konfrontiert, verliert jedoch nie die Ruhe und zögert nie. Dank seiner Intelligenz und seiner Argumentationsfähigkeit kann er alle Situationen überwinden, ohne zu Gewalt greifen zu müssen. Seine Handlungen tragen entscheidend dazu bei, dass das Volk aus den Krallen der Diktatur befreit wird und Portugal den Weg zur Demokratie einschlägt. All dies ohne Blutvergießen – jedenfalls fast, denn vier Personen kommen ums Leben: Sie werden am 25. April gegen 20 Uhr von PIDE-Agenten erschossen, als eine Menschenmenge vor dem Hauptquartier der Geheimpolizei des faschistischen Regimes demonstriert. Weitere 45 Personen werden verletzt.
Erst am 26. April geben die PIDE-Agenten auf. Am selben Tag wird General Spínola zum neuen Staatschef ernannt und alle politischen Häftlinge aus den Gefängnissen in Caxias und Peniche befreit.
Am 27. April verkünden die Militärs als Hauptziele „die drei großen D“: Democratização (Demokratisierung), Descolonização (Entkolonialisierung) und Desenvolvimento (wirtschaftliche Entwicklung). Schnell kehren demokratische Verhältnisse ein und schon im Juli erklärt Spínola die ersten Kolonien in Afrika für unabhängig. Schwieriger ist die Umsetzung des dritten „D“. Ein Teil des Militärs wie auch der Parteien, die nun die politische Bühne betreten, wollen nicht nur Demokratie, sondern Sozialismus. Die nächsten Monate verlaufen nicht gerade friedlich und gehen in die Geschichte als „Verão Quente“ (heißer Sommer) ein. Die Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Fraktionen enden mit einem Putsch am 25. November, der die revolutionäre Linke von der Macht entfernt. An diesem Tag tritt Salgueiro Maia, der sich nach dem 25. April zurückgezogen hatte, erneut auf die Bühne. Auf Anfrage des damaligen Staatschefs Costa Gomes rückt er mit seiner Truppe aus Santarém wieder an und verhilft den moderaten Kräften in Portugal dazu, die Oberhand zu gewinnen.
Danach ist Salgueiro Maia auf den Azoren stationiert, leitet das Militärgefängnis in Santa Margarida und kehrt 1983 zur Kavallerieschule in Santarém zurück. Im Laufe der Jahre lehnt er verschiedene Privilegien und Auszeichnungen ab, die ihm angeboten werden: Er wird weder Mitglied des Revolutionsrates, noch Militärattaché in einer von ihm ausgewählten Botschaft oder Zivilgouverneur von Santarém. In die Politik wollte er sich nie einmischen. „Die Rolle der Soldaten ist es, die Freiheit und die Demokratie sicherzustellen, weiter nichts“, so Salgueiro Maia.
Der Kapitän stirbt Anfang April 1992 an Krebs, mit 48 Jahren.
Text: Anabela Gaspar
In ESA 04/16