Odyssee oder Glückstreffer
Als der Freimaurer Graf von der Lippe 1762 in Lagos eine Loge gründete, konnte niemand ahnen, dass knapp 150 Jahre später ein Großmeister der Geheimloge Carbonária als Gründer der Republik am 5. Oktober 1910 in die Geschichte eingehen würde
Angestachelt von den revolutionären Ideen und Ereignissen in Italien, Frankreich und Amerika riefen die Liberalen in Portugal laut zu Veränderungen auf. Nach dem Vorbild von Lagos entstanden überall im Land Freimaurerlogen. Die offene Diskussion über Missstände in der konstitutionellen Monarchie wurde salonfähig. 1844 gründete der Freimaurer Artur Luz de Almeida eine zweite, geheime Loge, die Carbonária Portuguesa. (dt.: Köhler-Loge). Parallel dazu formierten sich lokal zahlreiche republikanische und demokratische Gruppen und Zentren. Im Juni 1883 wurde die Partei Partido Republicano Português, kurz P.R.P. genannt, gegründet. Die Republikaner gewannen politisch an Boden.
Bis das britische Ultimatum gegen die Expansionspolitik Portugals in Mosambik und Angola 1890 dem Land einen schweren wirtschaftlichen Hieb versetzte. Die in den Kinderschuhen steckende Industrialisierung des Landes stagnierte, das Volk bangte um seine Zukunft, die Inflation galoppierte auf die fünfzig-Prozent-Marke zu. Der deswegen vorgezogene Militärputsch in Porto am 31. Januar 1891 schlug fehl. Daraufhin wurden sämtliche Aktivitäten der Republikaner und Demokraten verboten, verfolgt und bestraft. Die Logenbrüder gaben den Kampf gegen das Regime iníquo (Unrechtsregime) trotzdem nicht auf. Im Gegenteil. Systematisch unterwanderten sie das Militär, die Marine und die Politik und besetzten Führungspositionen. Wer zu wem gehörte, wussten nur Wenige. Der Geheimbund hatte aus den Repressalien der Vergangenheit gelernt, die Identität der Kameraden zu schützen.
Der als Revolta do Grelo (‚Rübstiel-Aufstand‘) bekannt gewordene Volksaufstand in Coimbra im März 1903, ungeplant und aus der Wut fahrender Markthändler gegen eine neu eingeführte Steuermarke entstanden, gebar brüderliche Solidarität unter den Betroffenen. Zum ersten Mal demonstrierten Händler, Arbeiter und Bauern mit Akademikern gemeinsam. Mit Erfolg. Die Steuermarke wurde abgeschafft. Von da an organisierte die Arbeiterklasse Gewerkschaften, forderte Tarifverträge und unterstützte den wachsenden Widerstand der Republikaner mit regelmäßig stattfindenden Generalstreiks auf sämtlichen wirtschaftlichen Ebenen.
Seit dem tödlichen Anschlag 1908 auf König D. Carlos und den Kronprinzen Luis Filipe glich Portugal einem brodelnden Hexenkessel, der jederzeit überkochen konnte. Das Volk drängte auf Umsturz. Der neuerlich geplante Putsch musste glücken. Ein zweites Scheitern wie am 31. Januar 1891 würden das Volk und seine Revolutionsführer nicht verkraften. Revolution lag in der Luft. Man tuschelte, der Moment sei gekommen. Aber nur Wenige kannten den Termin.
„Jetzt oder nie!“, rief der Carbonária-Anführer António Machado Santos, der später von der Presse als Gründer der Republik betitelt wurde, als er am 4. Oktober 1910 mittags um kurz nach zwölf Uhr am Kreisverkehr am Parque Eduardo VII mitten in Lissabon den Befehl zum Beginn der Militärrevolte gab. Der Marineoffizier wusste genau, welches Himmelfahrtskommando er führte. Die Kommunikation zum Marinekreuzer Adamastor und seinem Logenbruder Leutnant José Mendes Cabeçadas aus Loulé war kurz nach dem als Signal für den Start der Revolte verabredeten Kanonenschuss auf den Palácio das Necessidades abgebrochen. Machado Santos konnte nicht wissen, ob seine Logenbrüder die Stellung hielten oder längst von königstreuen Truppen überwältigt worden waren. Das Volk hielt seit den Kanonenschüssen am Mittag still. Am Nachmittag und Abend des 4. Oktober glich Lissabon einer Geisterstadt. Verlässliche Informationen über den aktuellen Stand der Situation zwischen den Aufständischen und den königlichen Truppen sickerten nur spärlich durch. Die Nachricht von der Flucht des Königs nach Mafra verbreitete sich hingegen wie ein Lauffeuer.
Die Moral der königlichen Miliz bröckelte. Erst wenige Tage zuvor hatten die Soldaten König D. Manuel II die Treue geschworen – und der ließ sie jetzt im Stich. Völlig demoralisiert hissten einige Einheiten die weiße Flagge. Andere desertierten. Die städtische Polizeitruppe am Bahnhof Rossio sympathisierte mit den Republikanern und wechselte die Seiten. Der harte Kern der Gardisten beriet indessen, wie sie die Aufständischen am Kreisverkehr unter Beschuss nehmen könnte. Mithilfe einer herbeigerufenen Polizeitruppe aus Queluz sah es sogar eine Weile so aus, als könnten die Gardisten die Revolte in der Nacht niederschlagen.
Am 5. Oktober um acht Uhr morgens erreichte die Depesche eines deutschen Diplomaten den Oberbefehlshaber der Garde, General Gorjão, sowie den Revolutionsführer Machado Santos, mit der Bitte um Gefechtspause, damit die am Park ansässigen ausländischen Familien die Innenstadt verlassen könnten. Während dieser Gefechtspause zogen Gorjão und Machado Santos Bilanz. Auf beiden Seiten fehlte Munition. Aufgeben oder weiterkämpfen?, fragte sich der General. Sieg oder Tod?, der Revolutionsführer.
Noch während die beiden gegnerischen Anführer zauderten, füllten sich die Straßen um den Kreisverkehr mit Menschen. Ihr Rufen Viva a República hallte durch die gesamte Stadt. Die Revolte war geglückt. Bambúrrio triumphierte Machado Santos. Donnerwetter. Glückstreffer! Die Führung der Militärrevolte versammelte sich kurze Zeit später auf dem Balkon der Câmara Munícipal und verkündete den Sturz der Monarchie und die Ausrufung der ersten parlamentarischen liberalen Republik Portugals mit Teófilo Braga als Präsident der Übergangsregierung. „Der Weg war lang und steinig, bis jeder Bürger den Wert seiner Seele zu schätzen wusste, für dessen Würde es sich lohnt, zu kämpfen“, schrieb der Journalist Raul Brandão in seinen Memoiren über die Odyssee seines Volkes in die Freiheit.
Wenige Jahre nach der Revolution des
5. Oktober verfolgten die vor und während der Revolte im Namen der Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit zusammengeschweißten Logenbrüder, Gewerkschafter und Volksvertreter deutlich verschiedene Interessen. Die Republik geriet mehrmals ins Wanken und scheiterte sechzehn Jahre, zehn Präsidenten und siebenundzwanzig Premierminister später. Ausgerechnet der Logenbruder José Mendes Cabeçadas, der mit den Kanonenschüssen den Beginn der Militärrevolte am 4. Oktober angekündigt hatte, war der erste Ministerpräsident der am 30. Mai 1926 ausgerufenen Militärdiktatur. Die Odyssee des portugiesischen Volkes setzte sich fort, bis der Kampf für Freiheit am 25. April 1974 sein vorerst letztes Ende gefunden hat.
Text: Catrin George
ESA 10/2015