Die aufregendste Zeit seines Lebens hatte Lorenz Erfurt als junger Angestellter der Firma Grundig in den 1960er und 70er Jahren im Werk in Braga, wo er sich für die Rechte der Arbeiterinnen einsetzte. Der ESA berichtet er über seine damaligen Beobachtungen
Zwischen 1965 und 1974 übernahm Lorenz Erfurt die Planung und Steuerung der Produktion sowie die Zeitwirtschaft und das Prämiensystem des Grundig-Werkes in Nordportugal. Während dieser Zeit konnte er aus erster Hand die miserable Situation der Frauen in Portugal erfahren. Er setzte sich für eine Verbesserung ihrer Arbeitsrechte ein und hat dafür auch persönlich einiges geopfert.
„Die meisten Frauen besuchten damals höchstens die vierjährige Grundschule und waren danach den ganzen Tag unter der prallen Sonne auf den Feldern in der Landwirtschaft tätig – oft mit ihren Kleinkindern auf dem Rücken. Die ledigen und kinderlosen Frauen waren daher sehr glücklich, wenn sie bei Grundig arbeiten konnten“, so Lorenz Erfurt. Im Werk wurden Fernsehgeräte und Kofferradios produziert. Die Belegschaft der Bandarbeiter bestand hauptsächlich aus zirka 300 jungen Mädchen, die im Durchschnitt 17 Jahre alt waren.
Anläßlich werksinnerer und äußerer Stimmung die sehr geringen Löhne anzumahnen, begann die Belegschaft der Produktion höhere Löhne zu fordern. „Es gab weder einen Betriebsrat noch eine Gewerkschaft die, wie in Deutschland, für soziales Gleichgewicht sorgte. Das Begehren wurde immer lauter, bis eines Tages alle Arbeiterinnen und Arbeiter gesetzeswidrig streikten und die Polizei einschritt. In dieser Zeit kam ich zu der Überzeugung, dass wir hier als deutsche Führungsmannschaft für den Frieden im Werk sowie für die Sicherheit – auch unserer Familien – Verantwortung trugen“, erinnert sich Erfurt. „Die Löhne dieser jungen Frauen waren zwar dem portugiesischen Arbeitsmarkt gleichgestellt, aber dennoch miserabel. Nur durch die Leistungsprämie konnten diese Bandarbeiterinnen etwas mehr verdienen“, erzählt er weiter. Das Prämiensystem war von ihm eingeführt worden und diente seinen Vorgesetzten im Stammwerk in Fürth oft als Gegenargument, wenn Erfurt erneut eine Erhöhung des Stundenlohns für die Frauen forderte. „Deren Antwort war immer, dass die Frauen bereits die Prämien erhielten. Doch dass diese Prämien mit mehr Leistung der Mädchen verbunden war und sie ihnen daher selbstverständlich zustand, das haben sie nicht berücksichtigt“, so Erfurt. Es gab fast keine Männer im Werk und die Frauen mussten daher auch die schwere Umrüstarbeit übernehmen. „Das kostete viel Zeit und hätte von stärkeren Männern schneller ausgeführt werden können. Die Firma hätte Zeit und Geld gespart und dieser Produktionsgewinn hätte, zusammen mit anderen Einflussgrößen, ausgereicht, um den Frauen etwas mehr zu zahlen“, so der ausgebildete Zeitwirtschaftler.
Auf die Frage, ob Grundig das Werk in Portugal lediglich eröffnete, um von den hiesi-gen niedrigen Löhnen zu profitieren, antwortet Erfurt, dass Portugal damals eine Diktatur war, „die dringend Devisen brauchte und sich durch die Ansiedlung ausländischer Firmen frisches und wertvolles Geld aus dem Ausland erhoffte. Um also ausländische Firmen ansiedeln zu können, mussten Anreize geschaffen werden, die sehr vielfältig waren. Unter anderem niedrige Löhne. Von daher waren Investitionen in Portugal Win-Win-Geschäfte.“
Laut Lorenz Erfurt war es ganz offensichtlich, dass diese Frauen lediglich die Ernährer ihrer Familien beziehungsweise ihrer Männer waren. „Am Zahltag versammelten sich teilweise die Männer am Werkstor, um den Frauen sofort die Lohntüten abzunehmen“, erinnert er sich. Oft waren mehrere Bandarbeiterinnen schwanger und er ließ, den Wünschen der Frauen entsprechend, die Arbeitsplätze umbauen, damit sie abwechselnd im Stehen und im Sitzen arbeiten konnten. „Der Umbau kostete zwar Geld, hatte aber den Vorteil, dass die Frauen auch im schwangerem Zustand weiter arbeiten konnten, denn sie brauchten das Geld dringend“, berichtet er. Wenn das Kind dann auf die Welt kam, verloren sie ihre Arbeitsstelle. „In der Personalabteilung saßen den ganzen Tag Leute, die auf einen freien Arbeitsplatz warteten“, so Lorenz.
Dass sie so viele Kinder bekamen, begründete sich darin, dass Familienplanung damals praktisch ein Fremdwort war und sie oft nicht einmal über ihren eigenen Körper bestimmen konnten. „Die Frauen erzählten mir oft von den sehr belastenden Streitereien innerhalb der Familie und meine Vorgesetzten wussten, dass sie kein Mitspracherecht hatten“, erzählt Erfurt. Er überlegte, ob durch eine Lohner-höhung nicht auch die Geburtenrate reduziert werden könnte. Die Frauen bestätigten ihm, dass, je weniger Geld sie hatten, umso größer ihre Abhängig vom Mann war. „Erst ab dem Moment, in dem der Arbeitnehmer seine Privatkosten abdecken und noch Geld sparen kann, ist er nicht mehr von seinem Arbeitgeber abhängig, wie es die Frauen von ihren Männern waren.“ Doch das Aufbegehren der Frauen in sozialer Hinsicht, insbesondere ihr Kampf um höhere, gerechtere Löhne war aussichtslos. „Von der Grundig-Hauptverwaltung erfolgte keinerlei Reaktion und selbst die Gewerkschaften, deren Angestellte fast ausschließlich Männer waren, und mit denen ich oft Kontakt hatte, unterstützten das Begehren der Frauen nicht.“
Seine soziale Einstellung und seine Bemühungen führten zu Kontrollen seiner Arbeit und Befragungen seiner Kollegen bezüglich seiner Person. „Bis mir dann ein Angestellter aus dem Stammwerk in Anwesenheit meiner Mitarbeiter eine lautstarke Standpauke hielt, die als letzte Warnung zu verstehen war, entweder die Profitlösung zu akzeptieren oder zu kündigen. Ich war inzwischen verheiratet und hatte einen kleinen Sohn. Eine stressgeladene Zeit mit schlaflosen Nächten!“, erinnert er sich. Das junge Paar entschloss sich nach Deutschland zurückzukehren, auch weil es sich schon im ganzen Land abzeichnete, dass es zu einem Aufstand kommen würde und Erfurt einen blutigen Bürgerkrieg befürchtete. Denn niemand konnte ahnen, dass die Nelkenrevolution friedlich ablaufen würde.
Die Erkenntnis, die er aus seiner Zeit in Portugal zog, ist die noch heute gültige Prämisse: „Gebt allen Menschen den gleichen Lohn für gleiche Arbeit und den Frauen zusätzlich eine Erziehungsrente und kostenlose Ausbildung ihrer Kinder.“
Text: Anabela Gaspar in ESA 03/2018