In Portugal wurde die Roda dos Expostos, das Pendant zur modernen Babyklappe, 1870 abgeschafft. Doch nachdem in Lissabon ein Neugeborenes in einer Mülltonne gefunden wurde, beschäftigt diese Vorrichtung wieder die Öffentlichkeit
Ende des vergangenen Jahres wurde in Santa Apolónia, Lissabon, ein Neugeborenes aus einer Mülltonne gerettet. Seine Mutter, eine 22-jährige Obdachlose, hatte es alleine auf der Straße zur Welt gebracht und in eine etwa 200 Meter entfernte Mülltonne gelegt. Dank der Überwachungskameras am Hafen von Santa Apolónia konnte die Polizei die Mutter des Neugeborenen identifizieren. Sie befindet sich wegen Mordversuch in Untersuchungshaft. Dieser Fall brachte die Diskussion auf, ob die Babyklappe, wie sie in anderen europäischen Ländern existiert, wieder eingeführt werden sollte.
Solche Vorrichtungen gab es bereits im 12. Jahrhundert. In Portugal wurde die Roda dos Expostos (Drehlade der Ausgesetzten), auch Roda dos Enjeitados (der Unerwünschten) genannt, 1498 eingeführt. Zuständig für ihren Betrieb war die Wohltätigkeitsinstitution Santa Casa da Misericórdia (SCM), die die Fonds dafür von den Gemeinden erhielt. Wie heute, waren die Rodas dos Expostos so angebracht, dass sie es den Müttern ermöglichten, die Babys anonym abzugeben. Meistens hinterließen sie einen Zettel mit dem Namen des Babys und ein „Zeichen“, wie die Hälfte eines Bandes oder eines Lotterieloses. Die andere Hälfte behielten die Mütter. Dies sollte als Beweis dienen, falls sie ihr Kind doch später zurück wollten, denn die meisten Babys wurden aus finanzieller Not abgegeben.
In der Casa da Roda, der Aufnahmestation der Klappenkinder, wurden die Babys von Frauen gestillt, die selbst ein Baby hatten oder deren Babys bei der Geburt gestorben waren und für diesen Dienst bezahlt wurden. Später wurden sie bei Pflegemüttern untergebracht. Inspektoren besuchten die jeweilige Pflegefamilie zweimal im Jahr, um festzustellen ob es dem Kind gut ging und auch, ob es überhaupt noch lebte und die Pflegeeltern nicht einfach die finanzielle Unterstützung weiter bezogen. Denn meistens stammten die Frauen, die die Aufgabe der Amme in der Casa da Roda und die der Pflegemutter übernahmen, aus sehr ärmlichen Verhältnissen und taten es nicht aus Nächstenliebe, sondern vor allem aus finanzieller Not. Mit sieben Jahren kamen die Jungen in eine Handwerkerlehre und die Mädchen wurden auf ihre Zukunft als Stubenmädchen vorbereitet. Das waren die, die Glück hatten, denn laut der Historikerin Isabel dos Guimarães Sá, „gab es damals einen Richter, der die Meninos de Roda, die nicht in eine Lehre geschickt wurden, versteigerte. Fabrikanten kamen so an billige Arbeitskräfte“. Der Arzt und Schriftsteller Júlio Dantas berichtet ebenfalls über die öffentlichen Versteigerungen von Klappenkindern in seinem Buch „O Amor em Portugal no Séc. XVIII“.
Doch viele überlebten nicht. Die Zeitung Mercúrio de Lisboa berichtete im Januar 1744, dass im Jahr davor 1.038 Neugeborene in die Drehklappe des Hospital Real de Todos os Santos in Lissabon gelegt wurden. 545 Jungen und 493 Mädchen. Davon starben 778! „Die meisten Kinder starben als Säuglinge. Viele von ihnen waren bereits geschwächt als sie ankamen, die Ernährung war schlecht und es gab keine medizinische Versorgung“, erklärt der Direktor des historischen Archivs der SCM in Lissabon. Die, die überlebten, wurden selten von der biologischen Familien gerettet. Doch Francisco D’Orey Manoel lehnt ab, dass die Drehlade gleichbedeutend mit einer Aussetzung war. „Die Zeichen beweisen, dass es eine Absicht gab, die Kinder später zu sich zu holen. Im Grunde genommen war die Klappe die mögliche soziale Antwort zu einer Zeit, in der es weder Kitas noch Mutterschaftsurlaub gab und die Bevölkerung in Armut lebte“, argumentiert er.
1783 legte der Generaldirektor der Polizei Pina Manique fest, dass jeder Bezirk Portugals über eine Drehlade verfügen musste. Dies führte dazu, dass die Anzahl der ausgesetzten Kinder drastisch zunahm. Das Register der Casa dos Expostos in Porto belegt, dass alleine am Abend des 18. Aprils 1826 fünf Neugeborene dort abgelegt wurden. Die Zunahme der ausgesetzten Kinder führte zu einer enormen Steigung der Betriebskosten der Casas da Roda und zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Kinder. Es gab weder ausreichend Ammen noch Betten. In einem Bericht von 1836 wird erwähnt, dass in der Real Casa dos Expostos de Lisboa sich bis zu fünf Kinder ein Bett teilten, verschiedene Gesundheitsprobleme grassierten und es lediglich 31 Ammen für 152 Babys gab. Die Lage war so schlecht, dass der Staat 1862 eine Kommission mit der Untersuchung der Casas da Roda beauftragte und 1867 das anonyme Aussetzen von Kindern unter Strafe stellte. Doch erst drei Jahre später wurde die letzte Drehlade in der Hauptstadt geschlossen. Wer ab 1870 sein Kind nicht aufziehen konnte oder wollte, musste es den Angestellten der Casa da Roda persönlich übergeben und eine Begründung nennen. Daraufhin verringerte sich die Anzahl der Klappenkinder drastisch und die Rodas dos Expostos wurden noch im selben Jahr abgeschafft und ein Geburtenzuschuss eingeführt. In den Jahren davor waren jährlich etwa 2.600 Neugeborene abgelegt worden. Ein Durchschnitt von sieben pro Tag! Aus dieser Zeit stammt die Sammlung von etwa 86.000 „Zeichen“, die sich im Archiv der SCM befinden.
Die Zeiten haben sich geändert. Welche Alternativen stehen heute zur Verfügung? In Portugal ist bis zur zehnten Woche ein Schwangerschaftsabbruch möglich. Die Kosten dafür trägt, anders als in Deutschland, der Staat. Der jungen Obdachlosen aus Lissabon soll diese Möglichkeit von einem freiwilligen Ärzteteam, das regelmäßig Obdachlose im Raum Lissabon betreut, angeboten worden sein. Aus Angst vor dem Abbruch soll sie abgelehnt haben. Eine weitere Alternative besteht darin, das Baby nach der Geburt zur Adoption freizugeben. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine wie in Deutschland seit 2014 im Gesetz verankerten „vertraulichen Geburt“, bei der die Mutter bei der Entbindung anonym bleibt, ihre Daten aber beim Bundesamt für Familie aufbewahrt werden, sodass das Kind ab dem 16. Lebensjahr den Namen seiner leiblichen Mutter erfragen kann. In Portugal ist das System etwas bürokratischer und die Namen der leiblichen Eltern werden zwingend gefordert. Bei der Geburt muss die Mutter das Baby schriftlich zur Adoption freigeben und ihren Willen sechs Wochen später vor einem Richter noch einmal bestätigen. In der Zwischenzeit übernimmt das Kinder- und Jugendamt die Verantwortung und das Neugeborene wird in einem Centro de Emergência Infantil untergebracht. Theoretisch leitet das Familiengericht nach Ablauf der sechs Wochen – die Zeit, in der die Mutter noch die Chance hat das Baby zu sich zu holen – den Adoptionsprozess ein und übergibt das Baby innerhalb von zwei bis drei Monaten Adoptiveltern. Doch meistens verläuft der Prozess anders. Wenn die Mutter nicht zum ersten Gerichtstermin erscheint, kann der Richter sie zu einem zweiten und sogar dritten Termin vorladen. Die Vorladungen erreichen eventuell die Mutter gar nicht, weil diese keinen festen Wohnsitz hat oder umgezogen ist. Auch kann der Richter, wenn die Unterschrift des leiblichen Vaters für die Freigabe zur Adoption nicht vorliegt, nach diesem fahnden lassen oder nach einem anderen Familienangehörigen, der das Neugeborene aufnehmen kann und die finanziellen Möglichkeiten dazu hat. Dies kann über ein Jahr dauern. Währenddessen bleibt der Prozess „eingefroren“ und das Baby wartet im Notaufnahmezentrum.
In anderen Ländern, wie Deutschland oder Öster-reich, können die Mütter ihre Neugeborenen in soge-nannte Babyklappen legen, die sich meistens in Krankenhäusern befinden. Dort werden sie in ein von außen erreichbares Wärmebett gelegt und sobald die Klappe geschlossen ist, wird durch einen Alarm ärztliche Hilfe herbeigerufen, sodass das Kind versorgt wird. Danach übernimmt das Jugendamt die Obhut und übergibt das Kind innerhalb kurzer Zeit geeigneten Pflegeeltern (den späteren Adoptiveltern). Für die leibliche Mutter besteht in Deutschland acht Wochen lang die Chance, das Baby zu sich zu holen.
Die erste Babyklappe wurde in Deutschland im Jahr 2000 in Hamburg eröffnet. Laut dem Hamburger Abendblatt wurden alleine in jenem Jahr vier Säuglinge von ihren Eltern ausgesetzt oder getötet. Der Jugendhilfeverein SterniPark wollte damals mit der Klappe den Müttern die Möglichkeit geben, ihre Kinder anonym abzugeben, sodass sie keine rechtlichen Konsequenzen zu befürchten haben. Im Sommer 2018 gab es in Deutschland knapp 100 solcher Vorrichtungen. Legal sind sie jedoch nicht: Laut Paragraph 1591 des BGB handelt eine Mutter rechtswidrig, wenn sie ihr Kind anonym in eine Babyklappe legt, denn in Deutschland erfordert eine Geburtsurkunde zwingend den Namen der leiblichen Mutter. Auch Personen, die wissen, dass eine Mutter ihr Kind anonym abgibt – wie es bei den Babyklappen der Fall ist – machen sich eigentlich strafbar. Die Babyklappen sind also nicht legal, werden aber geduldet.
Kritiker sind der Ansicht, dass die Möglichkeit zur anonymen Kindesabgabe geradezu einen Anreiz zur Kindesaussetzung darstellt und diese Kinder ihres Rechts auf Informationen über ihre genetische Herkunft beraubt werden. Außerdem wird bezweifelt, dass eine Mutter in einer ausweglosen Situation auf die Idee kommt, die nächste Babyklappe aufzusuchen. Befürworter argumentieren, dass mit diesem Angebot das Aussetzen auf der Straße oder die Tötung von Neugeborenen verhindert werden kann.
Text: Anabela Gaspar in ESA 01/2020