Bei den ersten demokratischen Wahlen nach 48 Jahren Diktatur riefen die Hauptdarsteller der Nelkenrevolution die Bevölkerung dazu auf, ihre Stimme zu enthalten, weil sie angeblich nicht reif genug war, um solch eine Entscheidung zu treffen
Nach dem Putsch vom 25. April 1974 verpflichtet sich die MFA (Movimento das Forças Armadas Bewegung der Militärs), welche auf provisorischer Basis zusammen mit Politikern aus verschiedenen Parteien die Regierung Portugals übernimmt, innerhalb von 12 Monaten freie universelle Parlamentswahlen durchzuführen. Die bislang im Untergrund tätigen politischen Parteien werden legalisiert, andere gegründet, eine Volkszählung wird durchgeführt, die Regeln für den Wahlgang festgelegt. Der Walhkampf wird sehr hart ausgetragen, denn schließlich geht es darum, Sitze im Parlament zu gewinnen, dessen Aufgabe es sein wird, Portugals Verfassung auszuarbeiten; In anderen Worten, die Schienen für die Zukunft des Landes zu legen oder gar die Zukunft des Landes zu bestimmen. Die Spannung zwischen den MFA-Militärs und den Politikern steigt. Die Wahl für die so genannte Assembleia Constituinte wird für den 25. April 1975 angesetzt. Ein Tag mit großem symbolischem Wert, da es der Tag des ersten Jubiläums der Nelkenrevolution ist. Mit Nähern des Datums beginnen einige MFAMitglieder der provisorischen Regierung jedoch daran zu zweifeln, dass die Bevölkerung nach 48 Jahren Diktatur zu einer solch wichtigen Aufgabe, wie die Autoren der zukünftigen Verfassung zu wählen, fähig ist. Sie fordern mehr Zeit. Premierminister General Vasco Gonçalves teilt diese Befürchtungen. ,,Nach 48 Jahren Faschismus war es nur logisch, dass wir daran zweifelten“, begründet er 2006 in einem Interview. Viele Militärs haben zudem Angst, dass die Assembleia Constituinte einige der Eroberungen der Revolution nicht berücksichtigen wird. Am 11. April, wenige Tage vor der Wahl, wird deshalb eine Plattform der MFA und den politischen Parteien gegründet. Doch dieser Pakt gibt der MFA keine absoluten Garantien. Gonçalves spielt seinen letzten Trumpf und schlägt Mário Soares, Vorsitzender der sozialistischen Partei PS, vor, eine ,,UnionFront“ mit allen Parteien zu bilden und ein gemeinsames Programm auszuarbeiten. Laut Gonçalves soll ,,diese Front und dessen Programm einen erklärenden und pädagogischen Effekt auf die Wähler haben, ihnen eine bewusste Wahl ermöglichen und Konflikte zwischen Parteien verhindern“. Soares lehnt jedoch den Vorschlag sofort ab, denn die Chancen, dass seine vor zwei Jahren gegründete sozialistische Partei PS bei den bevorstehenden Wahlen gewinnt, sind sehr groß. Angesichts der abschlägigen Antwort beschließt Gonçalves sich denen anzuschließen, die innerhalb der MFA für die Enthaltung der Stimme seitens der Bürger plädieren. Er begründet seine Entscheidung damit, dass die Bürger ,,sich noch nicht vollkommen über die Bedeutung des Wahlgangs bewusst sind“ und nicht ,,wirklich eine geformte politische Meinung haben“. Um also bewusst zu wählen, soll es korrekter sein, wenn die Bürger statt die Partei A, B oder C zu wählen, ihre Stimme enthalten. Dieses Argument wird von anderen Ministern der provisorischen Regierung, darunter Magalhães Mota, Gründer der demokratischen Volkspartei PPD (Partido Popular Democrático) als ,,salazarista“, das heißt Salazar typisch, bezeichnet. Sá Borges, damaliger Minister für soziale Angelegenheiten, meint, dass dieses Argument auch während der Diktatur benutzt worden ist, um freie und universelle Wahlen zu verhindern. Laut Almeida Santos, Minister für die Interterritoriale Koordination, handelt es sich schlicht und einfach um einen Versuch der MFA, weiterhin an der Macht zu bleiben. Diesen Vorwurf weisen die MFA-Militärs vehement von sich. Der Aufruf zur Enthaltung der Stimmen hat jedoch keinen Erfolg. Bei den Wahlen, an denen 14 Parteien teilnehmen, wählen 92 % der Bevölkerung. Alle Volljährigen, unabhängig von Geschlecht, Ausbildungsniveau oder finanzieller Lage, mit Ausnahme der Mitglieder und Mitwirkenden des alten Regimes, dürfen wählen. Die Enthaltung und die ungültigen Stimmen machen lediglich 8 % aus. Sieger der Wahl ist die sozialistische Partei von Mário Soares mit 38 % der Stimmen. Die PPD erhält 26 % und die kommunistische Partei PCP 12 %. Portugals neue politische Karte steht fest. Am 2. Juni 1975 findet die erste Versammlung des Parlaments statt. Neun Monate später beenden die 250 Abgeordneten die Ausarbeitung der Verfassung, die zwei Tage später verabschiedet wird. Die Assembleia Consituinte hat somit ihre Aufgabe erfüllt und wird aufgelöst. Am 25. April 1976 tritt die Constituição da República Portuguesa in Kraft, die bis heute, mit einigen Überarbeitungen, gültig ist.
CHRONOLOGIE 25.4.1974 Nelkenrevolution 25.4.1975 erste demokratische Parlamentswahlen nach der Diktatur (PS gewinnt mit 38 % der Stimmen) 2.6.1975 erste Versammlung des Parlaments (Assembleia Constituinte)
31.3.1976 Ausarbeitung Portugals Verfassung wird beendet 2.4.1976 Portugals Verfassung wird verabschiedet; Assembleia Constituinte wird aufgelöst 25.4.1976 Portugals Verfassung tritt in Kraft Änderungen an der Verfassung erfolgten in 1982, 1989, 1992, 1997, 2001, 2004 u. 2005
Anabela Gaspar in ESA 04/10