Die Maurin des Rio Seco
Nahe Faro gibt es ein trockenes Flussbett, das die Bewohner passend Rio Seco nennen.Lange bevor der Fluss austrocknete, soll ein Maure dort seine Tochter verzaubert haben
Zu Zeiten der maurischen Herrschaft in der Algarve floss der Rio Seco (z. Dt.: trockener Fluss) nahe Faro noch langsam in den Atlantik. Die Mauren nutzen seine Gewässer, um Waren bis an die Küste zu transportieren, aber auch für Verzauberung wie diese Legende uns erzählt.An einem lauen Frühlingsabend, nach der Rückeroberung der Algarve, spazierte ein Christ nahe dem heute als Rio Seco bekannten Flussbett entlang. Plötzlich hörte er Stimmen. Traurige, flüsternde Stimmen. Es war Mitternacht und er hatte Angst. Er blieb stehen, um keine Geräusche zu machen und seine Anwesenheit nicht zu verraten und lauschte den Stimmen. Es waren zwei Mauren, ein alter Mann und ein junges Mädchen. Das Mädchen kniete vor dem alten Mann und schien ihn anzuflehen. Dann hörte er den alten Mann laut und deutlich sagen: „Nein, meine geliebte Tochter, es geht nicht anders. Du musst hier verzaubert bleiben!“ „Aber wie lange Vater?“, fragte das Mädchen mit zitternder Stimme, die erraten ließ, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen.„Bis das ganze Wasser dieses Brunnens, unter dem ich deinen Palast habe bauen lassen, mit der Hilfe eines Eimers ohne Unterbrechung geschöpft ist“. Während der alte Mann dies sagte, schaute er den Mond an und machte über dem Kopf der Tochter geheimnisvolle Zeichen. Ohne einen weiteren Ton von sich zu geben, nicht einmal einen Seufzer, ließ das Mädchen sich in den Brunnen hinein werfen. Der Christ war so schockiert über das, was er soeben gesehen hatte, dass er den alten Mann nicht weggehen sah. Als er sich wieder fasste, wollte er dem Mann folgen, wusste aber nicht einmal, welche Richtung er eingeschlagen hatte. Am nächsten Morgen ging der Christ sofort zu der Stelle, an der er die beiden Mauren beobachtet hatte. Verwundert sah er, dass der Brunnen schon sehr alt und zerfallen war und seit langem nicht benutzt wurde. Er fragte in der Umgebung, wem der Brunnen und das Grundstück gehörten und kaufte es, ohne um den Preis zu feilschen. Direkt neben dem Brunnen ließ er eine Hütte bauen und stellte einige einfache Möbel hinein. Nachdem er alles eingerichtet hatte, begann er, mit Hilfe einer Zugrolle und eines Eimers das Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen. Er schöpfte ununterbrochen, Tag und Nacht, unendliche Stunden und gönnte sich keine Pause. Als das Wasser so niedrig war, dass er den Eimer nicht mehr füllen konnte, ließ er sich an dem Seil hinab auf den Grund. Doch als er seine Füße auf den Boden setze, erschien eine riesige Schlange. Er erschrak so sehr, dass er, ohne die Absichten der Schlange abzuwarten, die Flucht nach oben ergriff. Wenige Tage später erfuhr er, dass der Brunnen eingestürzt war und dass seine Hütte in einer Vollmondnacht von einem unerklärlichen Feuer zerstört worden war. Er kehrte nie mehr an den Ort zurück. Seitdem heißt es, dass ab und an im Rio Seco eine verzauberte Maurin erscheint, die ihr Schicksal beweint. Eine weitere Legende, oder einfach nur eine andere Version, berichtet von einer anderen – sehr merkwürdigen – Verzauberung mit einem Happy End, was bei Algarve-Legenden selten vorkommt. Nahe des selben Flusses soll eines Abends ein Mann in seinem Gemüsegarten auf Hasen, die seinen Salat fraßen, gelauert haben, als er plötzlich Stimmen wahrnahm. Er lauschte dem Gespräch und stellte fest, dass es sich um zwei Mauren handelte, Vater und Tochter. „Bitte verzeihe mir Vater“, flehte die junge Maurin. „Ich kann es nicht, meine liebe Tochter! Allah weiß, wie schwer es mir fällt, dich so zu bestrafen.“ Er machte über dem Kopf der Tochter geheimnisvolle Zeichen und sagte dabei: „Du wirst hier verzaubert bleiben, bis zwei Personen unterschiedlichen Geschlechtes am Tag vor dem Johannistag filhóses mit Wasser aus diesem Fluss kneten und sie hier essen, nachdem sie sich gegenseitig mit ihnen beworfen haben.“ Dann warf der Maure die Tochter in den Fluss und gleich hinterher eine mit Geld gefüllte Truhe. Am 23. Juni kneteten der Mann und seine Frau, die von den Geschehnissen und den Absichten ihres Mannes nichts ahnte, den Teig für das Süßgebäck mit Wasser aus dem Fluss. Danach warfen sie sich die filhoses gegenseitig ins Gesicht und aßen sie nahe der Stelle, an der der Mann die Mauren gesehen hatte. Als sie aufgegessen hatten, erschien ihnen eine wunderschöne Maurin, die ihnen dankte, sie von der Verzauberung befreit zu haben und sich dann in Luft auflöste. Der Mann hatte keine Sekunde gewartet und stürzte sich ins Wasser. Kurz darauf tauchte er wieder auf und schleppte die Geldtruhe mit sich. Diese Version ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr sich eine mündlich übertragene Geschichte im Laufe der Zeit verändern kann. Hier waren sehr fantasievolle – und humorvolle – Menschen am Werk. Man stelle sich die Verwunderung der Frau vor, als ihr Mann sie bat, ihn mit dem traditionellen Süßgebäck, das vor allem in der Adventzeit vorbereitet wird, zu bewerfen, sowie die gesamte Situation an sich.Die Maurin dieser Geschichte hatte Glück. Sie wurde von der Verzauberung befreit. Es gibt aber noch eine weitere Legende über den Rio Seco, die erzählt, dass zwei maurische Schwestern namens Alíria und Tomazina und das Baby einer von beiden in den Fluss geworfen wurden. Sie sollen den Bewohnern der Gegend in unterschiedlichen Gestalten erschienen sein. Unter anderen als Schlange und Aal. Oft aber auch in menschlicher Gestalt, wobei eine in den Haaren einen wunderschönen, glänzenden Stein trug, der, so die Legende, ihr Baby war.
ESA 9/13