Das älteste Stadtviertel Lissabons erkundet man am allerbesten zu Fuß abseits der konventionellen Sehenswürdigkeiten
Auf den Grundmauern einer erst römischen und später westgotischen Zitadelle thront das Castelo de São Jorge auf einem der insgesamt sieben Hügel Lissabons. Die imposante Festung diente der Stadt während der maurischen Besetzung als Wächter, den christlichen Rückeroberern als Königsburg und der Nationalgarde als Kaserne. In der Neuzeit ist die einstige Bastion zum touristischen Anziehungspunkt avanciert. Um dorthin zu gelangen, kann man ein Taxi nehmen oder den Mini-Stadtbus 737 bis zum Hauptportal Arco do Castelo.
Spannender ist es jedoch den Hügel zu Fuß zu bezwingen. Mit dem elevador in der Rua dos Fanqueiros Nummer 178 kommt man rasch zur Rua da Madalena. Von dort zu Fuß weiter schräg links vorbei am Schnitzelsandwich-Kultlokal As Bifanas do Afonso zum Parkhaus Chão do Loureiro, in dessen Erdgeschoss ein Supermarkt untergebracht ist. Aufwärts Richtung Kastell geht es über die Außentreppe, oder mit dem Parkhaus-Lift Castelo. Oder durch das Treppenhaus in der sogenannten Graffiti-Garage in der Street Art Künstler jede Etage anders gestaltet haben. Oben angekommen lädt die Roof-Top-Bar ein zu einem Drink mit Ausblick über die Dächer der Baixa und den Tejo bis zur Cristo-Rei Statue am Südufer vor der Kulisse der Stahlhängebrücke 25 de Abril.
Links entlang auf der Einbahnstraße Costa do Castelo stößt man auf urbane Gartenidylle. Auf der Sonnenseite des Burghügels haben Anwohner der Erde wenige Quadrat-meter messende Terrassengärten abgerungen, die am unteren Burgwall abschließen. Hier werden Gemüse, Kräuter und Tomaten gepäppelt. Im Frühling ist die Luft erfüllt vom Duft nach Orangenblüten, im Sommer nach Lavendel und im Herbst wiegen sich reife Oliven im städtischen Wind. Bougainvilleas und Hortensien fallen farbenfroh über Mauerkanten. Stadtwärts fällt die Alfama bis zur Rua da Madalena und zur Tram-Haupthaltestelle Martim Moniz hinab. Treppengässchen, sogenannte escadinhas, verbinden im Zickzackkurs Häuser mit Plätzen, verschwiegenen Kapellen und Waschplätzen. Geradeaus erhebt sich der Wehrturm São Lourenço, einer von elf intakten des Castelo de São Jorge. Während einer Belagerung gewährte dieser Turm über eine steile Treppe Zugang zu einer versteckten Quelle, von wo aus wiederum ein Geheimgang die Flucht aus dem Kastell gewährleisten sollte. Bei der Rückeroberung Lissabons durch den ersten König von Portugal D. Afonso Henrique anno 1147, half dieser Tunnel den maurischen Herrschern jedoch nicht, im Gegenteil, lauerten am Ausgang die Soldaten des Königs auf die Flüchtigen.
Folgt man von der Roof-Top-Bar dem Festungswall rechts entlang und aufwärts bis zum Bogenportal der Burg, passiert man unterwegs das Kulturcafé Chapitô à Mesa. Dort gibt es Kunsthandwerk ansässiger Künstler zu kaufen, Musikabende und leckere Snacks auf der Terrasse im Grünen serviert. Gleich hinter dem Hauptportal, wo der Schutzheilige Sankt Georg der Kreuzritter in einer Nische steht, kommt man zur Burg-kasse. Mit der Lisboa-Card hat man generell Vortritt beim Eintritt, mit einer online erworbenen Eintrittskarte ebenfalls. Wer sich den Besuch des Kastells für ein anderes Mal aufspart, dringt in den ursprünglichen Siedlungskern von Lissabon vor. In die vila-dentro, das hinter Burgmauern gelegene Dorf, ganz und gar vom äußeren Wall umschlossen. Einmal um den Block kann man schlendern, und findet in der Tat Dorfidylle. Autos verkehren hier keine. Frisch gewaschene Wäschestücke flattern auf den zwischen den Häusern gespannten Leinen und verströmen den für Lissabon typischen Kernseifen-Duft, den die Fado-Diva Amália Rodrigues in ihrem weltbekannten Fado-Titel Cheira a Lisboa verewigt hat.
Am Kirchplatz befindet sich das urige 28-Café, untergebracht in einem original Tram-Waggon, der in das Erdgeschoss eines Hauses eingebaut worden ist. Bei schönem Wetter sitzt man schattig geschützt auf dem Platz davor und belauscht Pfauen beim Anbetteln der Touristen auf der anderen Seite des Wehrs. Die beste Aussicht über die Unterstadt von Lissabon und die Viertel Bairro Alto, Mouraria und Graça sowie in das Innere der Festungsanlage bekommt man übrigens im Kirchturm gegenüber dem Café in der Igreja da Torre do Castelo.
Der Weg aus der Festung führt zurück durch das Portal Arco do Castelo geradeaus und an der Bushaltestelle in die zweite Gasse nach rechts, am Ende links, am Ende rechts abwärts über den Platz Largo Contador Mor, und wieder rechts zur Kirche Igreja de Santiago, dem Etappenstart zu einer möglichen Pilgerreise auf dem Jakobsweg von Lissabon bis nach Santiago de Compostela im fernen Galizien. Gegenüber auf der anderen Seite der Hauptstraße, mit Straßenbahnanbindung und Haltestelle, liegt die Aussichtsterrasse Santa Luzia mit ihrem Rosengarten und einem mehrere Quadratmeter großen azulejo-Wandbild von der Stadtansicht Lissabons im 18. Jahrhundert. Die Aussicht über den Tejo und die Dächer der Alfama ist grandios.
Links hinter der Santa Luzia Kirche erreicht man den Platz Largo Portas do Sol. Im Schatten hochgewachsener Zypressen, eine sanfte Brise auf den Wangen, mit Blick auf das Kloster Convento de São Vicente de Fora, das Mausoleum Panteão Nacional mit Marmorkuppel und das Gassenlabyrinth von Escolas Gerais, legendäres Künstlerviertel der Alfama mit etlichen Galerien und Werkstattateliers, schmeckt eine frisch gebrühte bica mit pastel de Belém am Straßenkiosk doppelt gut.
Die von Abgasen ergraute Statuette des São Vicente blickt derweil wehmütig auf die königliche Karavelle in seinen Armen herab, an deren Bug und Heck ein Rabe sitzt. Ob er es vielleicht rückblickend bedauert, dass er durch bestialische Torturen für seinen Glauben an die Heilige Dreifaltigkeit den Tod gefunden hat und seither als Märtyrer verehrt wird? Die beiden Raben jedenfalls schmücken samt Schiff das Stadtwappen von Lissabon, auf Laternenpfählen, auf Gullys, sogar auf Mülltonnen, und erinnern an die uralte Legende um Vicentes sterbliche Überreste, die angeblich von zwei schwarzen Vögeln bis zur Ankunft in Portugals Hauptstadt begleitet worden sind.
Für Freunde ausgesuchter portugiesischer Antiquitäten und Raritäten lohnt ein Besuch im Museum der Stiftung Fundação Ricardo do Espírito Santo Silva gegenüber im bordeaux-roten Stadtschlösschen. Danach geht es gleich neben dem Kioskcafé abwärts über die Treppe bis zum ersten Absatz, und dort links durch ein Gewölbe durch den westgotischen Wall weiter. Im Gewölbe prangen aufgemalt Straßenkunst-Comics, die die wichtigsten historischen Ereignisse Lissabons chronologisch aneinandergereiht zeigen. Von der Ankunft des epischen Seefahrers Ullysses bis zur Nelkenrevolution reicht der komikartig gestaltete Geschichtsquerschnitt. Dahinter führt eine Treppe abwärts bis zu einer Gabelung, dort geht es nach links, dann nach rechts weiter, und schon steht man mitten im Wohnviertel der Alfama.
Was auffällt, ist die plötzliche Stille. Und es duftet nach Hausfrauenkost. Auch hier flattern Wäschestücke auf kurzen Leinen am Balkon gespannt. Die Häuser stehen derart nah beieinander, dass Nachbarinnen sich über die Gasse hinweg die Hand reichen könnten. An den Balkons hängen Blumentöpfe mit Koriander, Petersilie, Piri-Piri – und Geranien. Jede Menge davon. Sicher dudelt irgendwo ein Radio. Fado. Wo sonst, wenn nicht hier, wo der Gesang des Volkes Fado Vadio geboren wurde. Wo Großfamilien und Verwandte ein Leben lang auf engstem Raum gedrängt wohnen, wo ein Geheimnis wegen eben dieser Enge gar keines bleiben kann. Wo alle Freude, Leid, Glück und Trauer miteinander teilen und Liedtexte von Zänkereien, Liebeleien und Träumereien singen. An den Fassaden der Häuser hängen Tafeln mit Konterfeis von eben diesen Nachbarn und bescheren intime Einblicke hinter die niedrigen Türen, hinter denen Anwohner ihre Träume mit Sehnsucht und Musik wärmen. Früher wie heute. Zu den bekannten Gesichtern des Viertels gehörten zum Beispiel die Drei Marias, die sich täglich zum Plausch trafen. Dona Cândida, die noch achtzigjährig ihre bescheidene Rente mit dem Straßenverkauf von hausgemachtem Ginja-Kirschlikör aufbesserte. Aber auch der Schuhmacher, die Wäscherin, die Näherin und all die anderen, die der Alfama mit ihren wehmütig-fröhlichen Lebensgeschichten das so eigenwillig romantische Flair verleihen, umgeben von maroder Architektur. Verweilen möchte man an einem der unzähligen lauschigen Brunnenplätze, die den Ursprung des Namens Alfama verraten. Alhammam, was auf Arabisch Quelle bedeutet. Eventuell stammt der Ur-Name sogar vom römischen Wortstamm fama ab, die Göttin der Gerüchte und des Ruhms. Vielleicht haben sich fama und al-hammam im Laufe der Jahrhunderte lautmalerisch zu Alfama zusammengefügt. Zur Quelle der ruhmvollen Gerüchte. Wer weiß. Sicher ist jedenfalls, dass es all die malerischen Treppengässchen, Plätzchen und liebevoll dekorierten Gaststübchen mit Fado Vadio Darbietungen im Kerzenlicht bei caldo verde Kohlsuppe und gegrillter chouriça nur an einem einzigen Platz auf der ganzen Welt gibt – in der Alfama. Nostalgischer geht nicht.
Text: Catrin George Ponciano in ESA 02/2021
Castelo de São Jorge
http://castelodesaojorge.pt/site/pt/
precos-horarios-e-informacoes-uteis/
Aussichtspunkt Kirchturm
http://torredaigrejadocastelo.pt/home
Fundação Ricardo do Espírito Santo Silva
https://www.fress.pt
Empfehlung:
Unbedingt bequeme Schuhe mit rutschfester Sohle tragen, das Kopfsteinpflaster in der Alfama ist an etlichen Stellen tückisch glatt oder holprig.