Timo Dillner ist Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Dichter und macht nun auch Filme. Sein Werk ist fester Bestandteil des kulturellen Lebens der Algarve und erreicht das deutschsprachige ebenso wie das portugiesische Publikum. ESA-Autorin Henrietta Bilawer traf ihn bei der Arbeit
ESA: Herr Dillner, Sie werden fünfzig, Sie leben seit rund zwanzig Jahren in der Algarve – Zeit für eine Rückschau?
TD: Gelegenheit dazu bieten mir eher abgeschlossene Arbeiten oder umgesetzte Ideen. Blicke ich trotzdem zurück, reiht sich in der Erinnerung eine Vorschau an die andere: Das Abitur weckte Erwartungen für das Studium der Pädagogik, Germanistik und Kunst. Der Uni-Abschluss war ein Gruß an die künftige Arbeit. Die neun Jahre, die ich in den Branden-burgischen Kunstsammlungen Cottbus arbeitete, neigten sich Visionen eines Lebens in Portugal entgegen. Ich hätte Lust, den zurückgelegten Weg noch viele Jahre in die Zukunft hinein zu verlängern. Eine Vision also. Keine Rückschau.
Sie haben mir erzählt, dass es eine Phase gab, in der Zweifel Sie zur Beschäftigung mit der Frage ‘Was ist Kunst?’ führten. Haben Sie eine Antwort gefunden?
Mein Zweifel betraf das Berufsbild, in das ich mich begab: Ich musste mich Künstler nennen, ohne Kunst wirklich erklären zu können. Ob ich male, dichte, zeichne oder Skulpturen
mache – Zweifel dient noch immer jeder Arbeit als Ansporn und Prüfung zugleich. Erst, wenn das Werk es schafft, den inneren Zweifler in mir zufriedenzustellen, ist es beendet.
Kürzlich haben Sie einen Film beendet, der untrennbar zur Algarve gehört.
In ‘Vocado – Heinrich der Seefahrer’ konnte ich viele Aspekte meiner Tätigkeit in einem Werk zusammenzufassen: Philosophie, Bildhauerei, Poesie, Malerei, Zeichnung, Animation und Performance. In 25 Filmminuten konzentrieren sich Jahre intensiver Arbeit, die 2010 begann, als das Centro Cultural de Lagos eine Ausstellung über den Infante D. Henrique veranstaltete. Damals entstand meine zwei Meter hohe Figur Henrique, o Navegador. Der Film erzählt vom Geist Heinrichs, der sich durch die Skulptur heraufbeschworen fühlt. An ihrer und des Künstlers (also meiner) Seite wandelt der Geist zwischen Lagos und Sagres, begleitet und kommentiert die Bilder des Films.
Der Monolog wechselt sich mit perfekt
abgestimmten Kompositionen unseres Sohnes Elias ab, dessen Musik wichtiger Bestandteil der Geschichte ist.
Wie nähert man sich einer für Portugal so symbolhaften Figur?
Mir war klar, dass ich mich auf ein großes Wagnis einlassen würde, wenn ich dieses portugiesische Heiligtum bearbeiten wollte. Aus Gesprächen, Büchern und Vorträgen erfuhr ich viel vom Verhältnis der Nation zu ihrem Helden. Vom Sklavenhandel, in dem Henrique ebenso tief steckte wie in Schulden. Von seinem Bruder, den er seinen militärisch-politischen Plänen opferte. So formte sich das Bild eines Menschen seiner Stellung in seiner Zeit, dem die Portugiesen zwar mit Stolz begegnen, aber auch viel kritischer, als ich als Ausländer das gewagt haben würde. So wuchs meine Idee, dass die nationale Symbolfigur nicht dort
stehen bleiben sollte, wo sie zufällig ihr Leben beendet hat. Wie würde jemand, der die Globalisierung (aus welchen Gründen auch immer) so vorangetrieben hatte wie Henrique, die
Gegenwart beurteilen und seine eigene Rolle heute definieren?
Was sagt das Publikum zum Film?
Die Reaktionen waren sehr positiv, und aus der Portugiesischen Botschaft in Berlin hieß es, ich hätte den Portugiesen mit diesem Film ein Stück ihrer Geschichte geschenkt. Kann ich mir ein größeres Lob wünschen? Die Übersetzung ins Portugiesische wurde übrigens von unserer Tochter Malin gemeistert, die das Werk Luís de Camões‘ studierte, um dem Prinzen den poetischen und ein wenig altertümlichen Klang geben zu können, den ich meiner Figur auch auf die deutsche Zunge legte.
In Ihrer Arbeit findet man Protagonisten aus Staat und Kultur. Da spaziert Goethe durch die Gegenwart, Figuren zu Pferde erinnern an Don Quijote. Man sieht Könige und Geistliche…
Solche Figuren haben einen gewissen Bekanntheitsgrad. Das impliziert eine bestimmte Erwartungshaltung, mit der zu arbeiten einen großen Reiz hat. Ein König symbolisiert Macht und Reichtum. Ein Geistlicher steht für moralische Überlegenheit und den Zugang zum Spirituellen. Don Quijote ist das Symbol schlechthin für den aussichtslosen Kampf gegen wirkliche oder eingebildete Übel. Stellt man solche Symbole in neue, ungewöhnliche Zusammenhänge, hat man manchmal schon eine Geschichte, die sich selbst erzählt: Der arme König, der zweifelnde Geistliche oder ein siegreicher Don Quijote sind provozierende Konstellationen, ebenso der ratlose Philosoph oder ein Goethe, der sich gegen kulturellen Fortschritt stellt.
Sie haben in einem Café Grafiken von Rauchern gezeigt und das Rauchverbot künstlerisch umgangen. Ist Kunst eine (auch provokative) Kommunikation, die fordert, sich des eigenen Verstandes zu bedienen?
Auf alle Fälle. Ich provoziere ja schon, indem ich Denkmuster und Sehgewohnheiten hintergehe und damit zu Widerspruch und Auseinandersetzung anrege. Das ist sogar ein Anliegen meiner Kunst. Ich freue mich über ein „Nanu, was ist das denn?“ viel mehr als über ein „Ach, wie schön!“ Das Bewundern von Schönheit ist passiv, während eine Frage aktiv Anlass zu Kommunikation gibt.
Auf dem Bild „Der Seewolf” hält die Figur einen Schirm aufgespannt wie Spitzwegs „Armer Poet“ – vor was schützt sich Ihr Seewolf, das auf ihn herabregnen könnte?
„Seewolf“ steht für Kraft und Heldentaten, aber auch für Einsamkeit und Alter. Deshalb hat das Bild einen zweiten Titel, der „Vom Altern“ heißt. Mein Seewolf braucht den Schirm nicht zum Schutz. Er hält ihn über sich als Zeichen von Sorglosigkeit und Zuversicht. Das wird auch durch das Gedicht ausgedrückt, das das Bild begleitet: dies mein leib, für dich gegeben. und meine seele? nimm sie hin! aus dem, was ich geblieben bin, forme ich zwei neue leben, einen leib und einen sinn
Viele Ihrer Bilder haben poetische Begleittexte. Sollte man das Wort nie vernachlässigen?
Die Gedichte zu meinen Bildern sind mir selbst der geheimnisvollste Teil meiner Kunst. Es gelingt ihnen immer, mich zu überraschen, so, als kämen sie von außerhalb. Jedenfalls sind sie ganz Element meiner Kunst: Gemälde, Titel und Gedicht sollen ein Dreieck formen, in dem sich der Betrachter verlieren und wieder finden kann, denn jedes Element verändert das andere und bereichert es um Dimensionen, die es für sich allein nicht hätte.
Welche Themen wählen Sie für Ihre Plastiken?
Im Gegensatz zu Malerei, Zeichnung oder Poesie sind meine plastischen Arbeiten nur selten Ergebnis der Beschäftigung mit einem konkreten Thema. Hier reizen mich das Material und seine Möglichkeiten zum Experimentieren.
Ich folge gern den Richtungen, in die mich das Splittern eines Holzes oder der Druck eines Daumens in feuchten Ton führen. Hat sich dann aber eine Gestalt ihr Existenzrecht erkämpft, helfe ich ihr auch gegen den Widerstand des Materials auf die Welt.
Ihr jüngstes Buch hat die Algarve zum Thema. Wie erreicht man Leser, wenn der deutschsprachige Bücherberg jährlich um Zehn-tausende Neuerscheinungen wächst?
Berge wie dieser stören mich, weil mein Blick kaum noch die Weite eines Horizontes findet. Deshalb lege ich es nicht darauf an, den Berg durch meine Arbeit noch zu vergrößern. Mit meinen Texten möchte ich Tunnel in ihm schaffen, durch die man auf die andere Seite gelangt. In ‘Der Drache von Sagres’ hat jede Erzählung als Hintergrund ein Monument, das besondere Aufmerksamkeit der Kulturdirektion der Algarve genießt. Die Anregung ging auch von dort aus, weil man den Stil meiner Texte für eine solche Unternehmung sehr geeignet fand. Jedes Monument hat einen eigenen Charakter. Die Stimmungen der Orte und die Historie sind das Material, das ich zum Be-Schreiben hatte. Der Hintergrund der Halbinsel, auf der die Fortaleza de Sagres steht, bot mir das Bild eines schlafenden Drachen. Sein Atem ist die Gischt, die bisweilen aus den Felsspalten nach oben drückt.
Sie sind eine feste Größe im Kulturbetrieb, haben viele Ausstellungen nicht nur in der Algarve, dazu Lesungen und künstlerische Projekte an Schulen in Deutschland und in Portugal, sprechen Portugiesisch, Ihre Kinder sind hier zur Schule gegangen. Fühlen Sie sich hier zu Hause?
Ich habe mich lange als Brückenbauer zwischen beiden Ländern gesehen und viel dafür getan, dieses Bild mit künstlerischem Leben zu füllen. Zweisprachige Publikationen und Ausstellungen, internationale Projekte, engagierte Arbeit in der Deutsch-Portugiesischen Gesellschaft. Dabei habe ich Deutschland zunehmend als Ausland erfahren müssen, während Portugal mir zu einer wirklichen Heimat wurde. Jedenfalls bin ich sehr froh darüber, dass man mich hier nicht als deutschen Künstler kennt, der zufällig in Lagos lebt, sondern als Künstler aus Lagos, der zufällig deutsch ist.
Im selben Maß, in dem sich Deutschland mir entfremdet, wird es zur Zukunft unserer Kinder, die sich dort ihre eigenen Nester bauen und Pläne haben, die weit über die Zeit des Studiums hinaus reichen. Gut so, denn so wird es immer eine Brücke zwischen den Ländern geben.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Text: Henrietta Bilawer
ESA 11/16