Die andere Seite
Brückenschlag in eine neue Zeit
In diesem Monat wird die Ponte 25 de Abril fünfzig Jahre alt. Lissabons erste Brücke über den Tejo wurde nicht nur zum Wahrzeichen der Hauptstadt; die Verbindung zum gegenüberliegenden Flussufer hatte entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Südens
Eigentlich beginnt die Geschichte der Lis-sabonner Tejobrücke bereits vor 140 Jahren, in einer Epoche großer technischer Neuerungen: Die wichtigsten Straßen der Hauptstadt wurden bereits durch Gaslaternen beleuchtet, die Pferdebahn als Vorläufer der berühmten elétricos sorgte für kurze Wege. Eisenbahnlinien führten nach Santarém, Vila Nova de Gaia und zur spanischen Grenze; die Strecke nach Porto stand vor der Fertigstellung. Im Alentejo fuhren Züge von Beja, Setúbal und Estremoz. Sie endeten in Barreiro am südlichen Tejoufer. Von dort ging es nur mit der Fähre weiter – die damals einzigen Brücken über den Tejo lagen gut 130 Kilometer entfernt nahe Constância für Züge und bei Abrantes für andere Fahrzeuge.
Die Eisenbahn war in jener Zeit die treibende Kraft für den Brückenbau in Portugal und so präsentierte der Ingenieur Miguel Pais 1876 seine Vision eines Eisenbahn-Viadukts vom Nordosten Lissabons nach Montijo am Ufer gegenüber – und plante eine Fahrspur für andere Fahrzeuge ein. Doch das Projekt blieb Theorie, genau wie Pläne für weitere Viadukte und Tunnel der folgenden Dekaden. Das Mar da Palha, die einem Binnenmeer ähnliche, immense Bucht von Lissabon, die Bürokratie und nicht zuletzt die Kosten sorgten dafür, dass die Verbindung der Metropole zum Süden ein kühner Traum blieb. Flussaufwärts entstanden neue Viadukte, aber in Lissabon schien der Tejo unüberbrückbar – a Outra Banda, das andere Ufer, blieb eine Welt für sich.
Anfang der 1950er Jahre hatte der diktatorisch geführte Estado Novo die Förderung der Industrie initiiert. Entsprechende Sechsjahrespläne sahen auch den Ausbau der Verkehrs-infrastruktur vor und 1959 nahm das Prestigeprojekt einer Lissabonner Tejo-Brücke Gestalt an. Die United States Steel Corporation gewann die internationale Ausschreibung (die Herkunft der Erbauer begründet die Ähnlichkeit der Brücke mit der Golden Gate Bridge in San Francisco). Portugals Handelsmarine erhielt den lukrativen Großauftrag, 80.000 Tonnen Stahl für den Brückenbau aus den USA heranzutransportieren. 1961 begann die Arbeit an dem Viadukt, das sich 2.278 Meter über den Tejo erstreckt.
Die Brücke, bis zur Nelkenrevolution -Ponte Salazar genannt, war das erste mit Pri-vat-krediten finanzierte Großprojekt des Landes, denn Finanzminister António Pinto Barbosa hatte es abgelehnt, das kostspielige Vorhaben in den Staatshaushalt aufzunehmen: Brücke und Zufahrtswege kosteten 2,145 Milliarden Escudos, nach heutiger Kaufkraft 800 Millionen Euro (die Golden Gate Bridge würde heute umgerechnet 530 Millionen Euro kosten). Dank geschickter Verhandlungen gewährten vor allem US-Geldgeber dem Land ein Darlehen mit zwanzigjähriger Laufzeit. Tatsächlich wurde der Kredit schon kurz nach der Nelkenrevolution 1974 getilgt.
Bei der feierlichen Einweihung am 6. August 1966 gab es denn auch gleich den ersten Verkehrsstau: Viele Autobesitzer (damals gab es landesweit 400.000 Privatwagen) wollten an jenem sonnigen Samstag Teil der historischen Erstüberquerung sein. TV-Zuschauer in ganz Europa sahen die Eröffnung der damals größten Brücke des Kontinents und bekamen einen seltenen Einblick in das Leben des sonst so verschlossenen Randstaates. „Die Brücke war ein sehr politisches Bauwerk und ohne sie wäre Portugal ein anderes Land“, sagt der Architektur-Historiker Luís Rodrigues.
Bereits in den ersten Tagen überquerten rund 50.000 Fahrzeuge die Brücke. Die Planer hatten als durchschnittliche Auslastung eine Million Autos veranschlagt, die ab 1985 pro Jahr die Brücke befahren würden – es waren schließlich sechzehn Mal so viele. Die Regionen am südlichen Tejo-Ufer erlebten „eine wahre Entwicklungs-Explosion“, heißt es im Rathaus von Seixal. Dort, wie auch in Almada, Sesimbra, Palmela und Setúbal stiegen die Bevölkerungszahlen durch Zuzug in wenigen Jahren um elf bis zwanzig Prozent. Ökonomische Verflechtungen mit der Hauptstadt garantieren seitdem nahezu jeden zweiten Arbeitsplatz. Der Effekt der Zeit und Aufwand sparenden Direktverbindung wurde bis in die Algarve spürbar, wo ein Jahr vor der Einweihung der Ponte 25 de Abril der Flughafen Faro eröffnet hatte. Nun verfügte der Süden über zwei Tore zur Welt.
Mit der Anbindung des Südens machte die Wirtschaft zwar große Fortschritte, doch die geringe Binnen-Nachfrage aufgrund der niedrigen Kaufkraft hemmte die Entwicklung der Märkte des Landes. Eine Wende trat ein, nachdem Portugal 1960 der Europäischen Freihandelszone EFTA beigetreten war und durch diese Öffnung erstmals ausländisches Kapital in großem Umfang in die nationale Wirtschaft floss, die sich in der Folge stärker am internationalen Marktgeschehen als an der heimischen Nachfrage orientierte. Ab 1965 flossen vierzig Prozent der staatlich gesteuerten Investitionen in das verarbeitende Gewerbe. Ziel der Salazar-Regierung war eine den Import substituierende Produktion zum Zweck ökonomischer Unabhängigkeit.
Für ausländische Investitionen waren vor allem Metallindustrie und Papierherstellung von Interesse sowie Petrochemie, Transport und der erstarkende Tourismus. Südlich des Tejo entfalteten sich die drei letztgenannten Sparten dank der Direktverbindung in die Hauptstadt rasch. In Setúbal entstand das Schiffswerk Setanave und in Sines ein Industriegebiet. Ab 1968 wuchs die Wirtschaft im Süden jährlich um sieben Prozent. Ausländische Unternehmen, die sich im Land ansiedelten, deckten zumeist Sparten ab, die nicht durch heimische Produzenten bedient wurden. So verdrängten sie keine inländischen Unternehmen, sondern schufen zusätzliche Arbeitsplätze. Doch die Impulse wirkten vor allem auf Küstenstandorte rund um Almada, Setúbal, Sines und in der Algarve. Das Hinterland hatte bald noch stärker mit der Abwanderung der Menschen in neu erschlossene Gebiete zu kämpfen.
Der Ölpreisschock von 1973 und die Nelkenrevolution im Jahr danach wirkten als Zäsur. Als Gegenmaßnahme regten die Regierungen der Folgejahre den regionalen Ausgleich an: „Die peripheren Räume sollen sich primär durch Förderung des eigenen Potenzials entwickeln“, besagt ein Strategiepapier von 1977. In den Distrikten Évora, Beja und Faro entstanden Industrieparks. Die systema-tische Tourismusförderung begann. Ohne die Anbindung an die Hauptstadt zum Zweck der infrastrukturellen Erschließung hätte es kaum Förderprogramme (unter anderem von der EU) für den Süden des Landes gegeben, die die wirtschaftliche Lage stabilisierten und zum Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in der Algarve von weniger als einem Drittel des EU-Durchschnitts auf inzwischen gut achtzig Prozent beitrugen.
Heute überqueren täglich 300.000 Fahrzeuge das Viadukt (ein Vielfaches dessen, was an der 1998 eröffneten Ponte Vasco da Gama zwischen den nordöstlichen Vierteln der Hauptstadt und Montijo gezählt wird). Der Traum des Ingenieurs Miguel Pais von einer Brücke, die Zügen und Kraftfahrzeugen gleichermaßen dient, erfüllte sich erst 1999, als die Ponte 25 de Abril um einen Gleiskörper unterhalb der Fahrbahn erweitert wurde. Fährschiffe kreuzen noch immer den Tejo, heute sind es meist moderne Katamarane, teils in Deutschland gebaut. Sie haben die Dampfer abgelöst, die „über das friedliche Wasser gleiten, das sich vor meinen Augen ausbreitet. Die Schiffssirene ertönt, der Gischt sprudelt unter uns, während sich nebenan ein Boot dem Kai nähert, an Deck, so scheint es, Poseidon, der die Segel einholt“, erzählte 1893 der Dichter Fialho de Almeida.
Entlang der 230 km, die der Tejo durch Portugal fließt, stehen heute 16 Brücken. 2008 wurde für Lissabon eine dritte Tejobrücke konzipiert, die dann der Wirtschaftskrise zum Opfer fiel. Ob sie je gebaut wird, ist ungewiss.
Text: Henrietta Bilawer
Foto: Arquivo Municipal de Lisboa
ESA 08/16