Wildpferde, Hexen und traumhafte Ausblicke: An kaum einem anderen Ort in Portugal erlebt man die natürliche Schönheit des Landes intensiver als im hohen Norden.
Ein kleiner Bach schlängelt sich seinen Weg durch das niedrige Gestrüpp. Von einem Felsen fällt er etwa zwei Meter hinab, ohne dass das Wasser aufspritzt und dass ein Rauschen die Luft mit seinem Klang erfüllt. Kein Tropfen fällt zu Boden, weiß sind die Spitzen des Wasserfalls. Völlig vereist liegt der Bach vor uns, von Schnee und beinahe durchsichtigen Kristallen umhüllt. Ich blicke nach oben. Die frische Luft brennt in meinen Augen und auf meiner Haut. Der blaue Himmel und die grenzenlose Freiheit scheinen nah. Wie großartig muss der Ausblick dort oben sein? Nur noch ein letzter Anstieg und wir sind am Ziel: auf dem Gipfel des Peneda-Gerês Nationalparks!
Der Parque Nacional Peneda-Gerês befindet sich im äußersten Norden Portugals und auch wenn er recht abgelegen an der spanischen Grenze liegt, ist der Naturpark doch ein beliebtes Reiseziel. Seit seiner Gründung 1971 lockt Portugals einziger Parque Nacional mit seiner rauen Berglandschaft und mit seiner großen Artenvielfalt. Nicht umsonst wurde der Nationalpark 2009 als geschütztes Biosphärenreservat der UNESCO ausgezeichnet.
Auf den Fotos und Prospekten mag die karge Landschaft auf den ersten Blick nicht danach aussehen, doch in dem rund 70.000 Hektar großen Kernbereich tummeln sich allerhand seltene Lebensformen. Wenn man dort danach sucht, findet man alles, was ein intaktes Ökosystem ausmacht: von kleinen blau-lila-farbenen Gêres-Lilien, über Steinböcke und Wildpferde bis hin zu großen Raubtieren, wie dem Steinadler und dem iberischen Wolf.
Auf unseren Reisen durch Portugal wurde uns immer wieder von der Wildheit und Schönheit dieser Region vorgeschwärmt. So oft, dass uns schließlich keine andere Wahl übrig blieb, als dem Nationalpark selbst einen Besuch abzustatten. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist es dabei so gut wie unmöglich den Park zu erreichen, ein Bahnhof ist weit und breit nicht in Sicht und für den Bus von Braga kann man viel Zeit und Geduld einplanen, wenn man denn überhaupt einen findet. Es war daher früh klar, dass wir einen Van ausleihen und selbst hinfahren wollten.
Wir sollten es nicht bereuen: Schon die Anreise war ein Erlebnis. Auf schmalen, teilweise extrem steilen Straßen fuhren wir stundenlang durch das hügelige und kaum besiedelte nördliche Portugal. Wir passierten Dörfer aus schönen Granitmauern und mit schwarzen Schieferdächern, die so ganz anders sind als die weißstrahlenden Häuser des Südens. Als wir abends endlich ankamen, wurden wir mit einem herrlichen Blick belohnt. Unten lag der Kurort Gerês mit seinen Hotels und Steinhäusern aus dem 17. Jh. und seiner berühmten Therme. Darüber aber erhoben sich die grauen Spitzen des Nationalparks rötlich schimmernd im Licht der untergehenden Sonne.
Kaum war die Sonne hinter dem Horizont verschwunden, legte sich eine bittere Kälte auf das Land. Unzählige Sterne füllten die Schwärze und langsam kroch die Eiseskälte von den Scheiben in das Innere des Vans. Es wurde eine lange Nacht, doch der Morgen machte alles wieder gut. Langsam fuhren wir von unserem Stellplatz in Richtung des Nationalparks, die Motorhitze und der Morgentee begannen uns langsam wieder zu erwärmen, als mit einem Mal eine Herde Garrano-Ponys aus den Wäldern trottete. Kälte und Wind draußen schien den Wildtieren nichts anhaben zu können, unbeirrt grasten die Ponys auf dem kargen Land. Immer heftiger blies der Wind von der spanischen Grenze herüber. Die Ponys aber blieben ruhig, schnupperten an unserem Wagen, und wunderten sich wohl, wer sich da in ihr abgelegenes Revier verirrt hatte. Nur die jungen Fohlen hielten Abstand und tollten über die Wiesen.
Wir hielten am Wegesrand, tranken unseren heißen Tee und beobachteten die Tiere eine Zeit lang. Einst hatte es überall auf der iberischen Halbinsel derartige Pferdeherden gegeben, heute befindet sich rings um den Peneda-Gerês Nationalpark eines der letzten Rückzugsgebiete der Garranos. Friedlich zogen die Ponys schließlich weiter. Wir sahen ihnen hinterher und eine tiefe Verbundenheit mit der Natur erfüllte uns. Es war ein Moment voller Ruhe und Dankbarkeit, von denen wir in diesem Nationalpark noch so viele erleben durften.
Der Peneda-Gerês Nationalpark ist ruhig und doch voller Leben. Ein wichtiger Faktor dafür ist ohne Zweifel das Wasser. Wo man sich im Nationalpark auch befindet, diese Basis des Lebens, die in Portugal sonst oft knapp ist, fließt hier reichlich. Solange man nicht zu weit aufsteigt, hört man es an zahllosen Stellen des Parks sprudeln. Unzählige Wasserfälle stürzen in die Täler und an ihren Ufern gedeihen Eiben und Birken, verschiedene Arten von Moosen, genauso wie Flechten, meterhohe Farne und natürlich die Tiere des Waldes.
Auch die Menschen nutzen das frische Wasser des Gebirges. In diesen Tagen, um auf den großen Stauseen in den Tälern mit Kanus, Segel- und Motorbooten Wassersport zu betreiben und in vergangenen Tagen, um in den herabstürzenden Bächen ihre Tierherden zu tränken und Getreide zu mahlen. Ein eindrucksvolles Zeugnis der alten Lebensweise findet man im Osten des Nationalparks. Nahe des Dorfes Pitões das Júnias liegen die Ruinen des Klosters Santa Maria das Júnias. An den Ufern eines größeren Baches erbaut, kann man heute noch das Mühlenhaus und die Reste einer alten Basilika besichtigen. Angeblich schon im 8. Jh. erbaut, lebten an diesem abgelegenen Ort bereits christliche Mönche, als im restlichen Portugal noch muslimische Mauren herrschten.
Der Ort ist eine der Keimzellen des christlichen Portugals und doch findet man in dem Bergdorf darüber Traditionen, die an noch dunklere Zeiten erinnern. Als wir diesen Ort besuchten, begegneten wir im ganzen Dorf seltsamen Puppen. Mit Kleidern, Hüten, Besen und allerlei Zeug waren diese geschmückt, sodass sie aussahen wie Hexen. Wir wussten es noch nicht, doch wir waren mitten in ein lokales Fest geraten.
Im ganzen Dorf saßen diese Puppen vor den Haustüren und nicht selten bewachten sie kleine, schön geschmückte Stände auf denen selbstgemachte Produkte angeboten wurden. Von Honig aus der Region, bis Kleidung und Schnaps konnte man hier alles mögliche finden. Wir liefen weiter in Richtung Dorfplatz, als uns plötzlich Einheimische mit Kuhglocken um den Hals und großen weißen Stofftüchern über dem Gesicht begegneten. Sie bimmelten laut mit ihren Glocken und verschwanden in der Dorfkneipe. Keltische Symbole prangten auf einem Holzbalken über der Kneipentür und aus dem Inneren dröhnte Männergesang und vergnügte Klänge eines Dudelsacks.
Als schließlich noch ein Reisebus mit galizisch-spanischen Touristen ankam war das Chaos in dem beschaulichen Dorf komplett. Etliche ältere Leute stiegen aus dem Bus und begannen sofort zu lärmen. Einer von ihnen blies pausenlos in sein braunes Jagdhorn, so dass es in den engen Gassen nur so dröhnte. Wir beschlossen der einzigen Bäckerei des Dorfes einen Besuch abzustatten und abzuwarten. Bei einem herrlichen Krapfen und einem echten, dunklen Brot beobachteten wir das seltsame Treiben. Die Kellnerin erzählte uns von der alten Verbundenheit dieser Region mit dem galizischen Nachbarland und von den uralten Traditionen, die dabei zelebriert wurden.
Wie jedes Jahr zu Beginn des Februars wurde auch an jenem Sonntag mit vielen alten Bräuchen der Winter ausgetrieben und dabei seit Neuestem, nach typisch portugiesischem Geschäftssinn, auch ein regionaler Markttag begangen. Wir waren rein zufällig in die 13. Ausgabe dieses Mostra de Produtos Locais genannten Festes geraten. Neben den regionalen Produkten wurden dabei auch mit Musik und Vorträgen der einheimischen Sprache und Kultur gedacht, doch das sollten wir nicht mehr erleben. Wir beschlossen weiterzugehen, uns zog unweigerlich das Gebirge an.
Denn wo man sich auch befindet im Nationalpark, überall locken die rauen Gipfel den Wanderer. Es gibt dabei viele Wege hinauf, gut ausgebaute genauso wie schlecht markierte, am besten man informiert sich an einer der zahlreichen Beschilderungen über den Aufstieg. Auch wir sollten auf diese Weise schließlich jenen Gipfel erreichen, nach dem wir uns so sehnten.
Endlich oben angekommen erwartete uns der ewige Wind und ein prächtiger Panoramablick: Das niedrige Gestrüpp unter uns flatterte beständig zwischen den Gesteinen und über uns zog ein Rotmilan einsam seine Bahnen durch den hellblauen Himmel. Wir pressten die Jacken enger um unsere Körper und beobachteten die Landschaft vor uns. Leichtfüßig sprang eine Herde Rehe über die Felsen und verschwand so schnell, wie sie gekommen war. In der Ferne aber reihten sich die Hügel und Täler scheinbar endlos auf. Ganz Nordportugal meint man von hier oben überblicken zu können und selbst der ferne Ozean ist bei gutem Wetter sichtbar. Lange standen wir dort oben, hielten Ausschau und genossen den Moment. Die Wildheit des Landes faszinierte uns und so manche Gewissheit, die wir über Portugal zu wissen glaubten, löste sich dort oben in der kühlen Bergluft auf.
Das Land der Orangen, Korkeichen und Traumstrände nennen sie Portugal. Millionen von Touristen reisen jedes Jahr in dieses Land, um an den sonnenverbrannten Küsten zu entspannen oder in den schönen Hafenstädten zu flanieren. Im äußersten Norden aber, kurz vor der spanischen Grenze, gibt es noch ein anderes Portugal. Im Peneda-Gerês Nationalpark existiert ein Portugal ohne Sandstrände, ohne den ewigen Atlantik und ohne den hektischen Massentourismus. Hier gibt es ein Portugal mit antiken Bräuchen, dunklem Brot und voller natürlicher Schönheit. Wer solche Abwechslung und Freiheit sucht, dem kann ich nur empfehlen der Region einen Besuch abzustatten – es lohnt sich!
In ESA 02/24 Text: Willfried Nass
